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Der verborgene Hof: Roman (German Edition)

Der verborgene Hof: Roman (German Edition)

Titel: Der verborgene Hof: Roman (German Edition)
Autoren: Jay Lake
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schnaubte.
    Als ich näher kam, sah ich, dass die fremde Gestalt ein Mann war. Ich hatte noch nie zuvor einen Fremden gesehen, deshalb dachte ich wahrscheinlich, dass alle Fremden Männer wären. Er war größer als Papa. Sein Gesicht war bleich wie die Maden, die sich auf unserem Misthaufen tummelten. Sein Haar, das unter den Stoffschichten hervorlugte, war von der Farbe verrottenden Strohs, seine Augen waren von der Farbe des Inneren einer Limone.
    Der Fremde kniete nieder, nahm mein Kinn mit festem Griff und hob es nach oben. Ich wehrte mich und muss etwas gesagt haben, denn ich bin nie ein schweigsames Kind gewesen. Er ignorierte meinen Widerstand und bewegte meinen Kopf auf und ab. Dann packte er mich an der Schulter, drehte mich herum und fuhr mir mit seinen Fingerknöcheln kräftig über das Rückgrat.
    Als er mich losließ, fuhr ich wütend und empört herum. Der Madenmann kümmerte sich nicht darum. Er sprach leise mit meinem Vater, mit undeutlicher Stimme, als ob es ihm schwerfiele, unsere Worte zu sagen. Nach einer kurzen Meinungsverschiedenheit drückte der Madenmann Papa einen seidenen Beutel in die Hand und schloss seine Finger darum. Daraufhin kniete Papa sich nieder und küsste mich auf die Stirn. Er legte meine Hand in die des Madenmannes, die nun aus der Seide seines Gewandes hervorragte.
    Papa drehte sich rasch um und entfernte sich mit Ausdauer im Schlepptau. Der Ochse, der immer sanftmütig gewesen war, bockte zwei Mal, schüttelte den Kopf und schnaubte laut, so wie er mich immer zu sich rief.
    »Meine Glöckchen«, rief ich weinend, als mich der Madenmann mit starker Hand mit sich fort zog. So verlor ich die mit Glöckchen benähte Seide und alles andere aus der Welt meiner Geburt.
    Das ist das Letzte, an das ich mich aus dieser Zeit meines Lebens erinnere, bevor sich alles änderte: ein weißer Ochse, eine hölzerne Glocke und mein Vater, der sich von mir abwandte und fortging.

Abschied von Zuhause
    Der Madenmann und ich wanderten fast den ganzen Tag. Er hielt meine kleine braune Hand mit seinen großen weißen Fingern fest umschlossen. Zudem hatte er ein seidenes Band um unsere Handgelenke gebunden, damit ich mich nicht losreißen und fliehen konnte. Mir wurde klar, dass er nicht eine Made, sondern eine Leiche war. Dieser Mann war aus dem Reich der Toten in unser Dorf gekommen.
    Das erfüllte mich mit großer Freude. Meine Großmutter hatte ihn gesandt!
    Schon nach kurzer Zeit wusste ich, wie dumm das war. Der Madenmann roch nach Salz und Fett und frisch gewaschenen Kleidern. Was tot war, roch – nun, tot. Wenn ein Mensch für das Himmelsbegräbnis vorbereitet worden war, oder ein Tier für die Opferung, dann war das eine andere Sache – aber alles, was unter unserer Sonne starb, begann rasch, zum Himmel zu stinken.
    Er war ganz eindeutig lebendig. Er musste glühen in dieser Hitze.
    Ich wandte meine Aufmerksamkeit dem Band zu. Es war von einem Grün, wie ich es noch nie gesehen hatte, hell und glänzend wie die Flügel eines Insekts. Frauen hatten ihre Seiden, aber selbst meine Kinderaugen konnten erkennen, dass dieser Stoff von einer ganz anderen Qualität war. Seine Fäden erschienen mir unglaublich fein.
    Aber das Band war ohnehin nicht so wichtig. Wir waren an einem riesigen Affenbrotbaum vorbeigegangen, der bisher die Grenze meiner Ausflüge gewesen war. Niemand außer uns befand sich auf der Straße, auf der wir den Spuren der Wagenräder folgten. Wir hätten ebenso gut die letzten beiden lebenden Menschen unter dem messingfarbenen Himmel sein können.
    Ich weiß, dass mein Vater außer »Papa« auch einen Namen hatte, und mein Dorf trug einen anderen Namen als »Zuhause«. Die Welt ist weiter, als eine Frau in ihrem Leben zu gehen vermag, vielleicht hundert Leben weit. Jede Stadt und Brücke, jedes Feld und jeder Berg hat einen Namen, gewählt nach Göttern oder Frauen, nach Reichen oder Traditionen. An diesem Tag wusste ich nur, wenn ich umkehrte und weit und schnell genug lief, würde ich den alten Affenbrotbaum erreichen und dem Geschepper von Ausdauers Glocke bis zu meiner kleinen Schlafstätte und meiner eigenen Seide neben der Feuerstelle meines Vaters folgen.
    Die Felder veränderten sich schon nach kurzer Zeit. Hier ernteten sie keinen Reis mehr. Hier gab es kein endloses Netzwerk von Wassergräben voller Frösche und Schlangen. Stattdessen trennten Zäune steinige Grasflächen voneinander. Gebetsfahnen hingen fast ausgebleicht von Sonne und Wind an den Zaunpfählen. Ein
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