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Der verborgene Charme der Schildkröte

Titel: Der verborgene Charme der Schildkröte
Autoren: Julia Stuart
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hinauf, weil man wegen der Enge dort nicht alles auf einmal mitnehmen konnte. Sie ging also gleich wieder hinunter, um die zweite Ladung zu holen, und als sie sich an dem schmierigen Seilhandlauf festhielt, an dem noch der Schweiß der Verdammten klebte, fragte sie sich, wie viele von ihnen wohl ihren Kopf behalten hatten.
    Rasch räumte sie die Einkäufe ein und machte sich daran, das Frühstücksgeschirr abzuwaschen. Nun dachte sie auch wieder an den Streit vom Morgen. Seit Milos Tod waren sie und ihr Ehemann nicht mehr so unzertrennlich wie früher. Beide hatten sie versucht, irgendwie weiterzuleben, und waren dabei in entgegengesetzte Richtungen getrieben. Wenn einer von ihnen gerne über den Jungen gesprochen hätte, wollte der andere für einen kurzen Augenblick die Tragödie vergessen. Schließlich waren sie, von Trauer zerfressen, an verschiedenen Ufern gestrandet und ließen die Wut über den Verlust nun aneinander aus.
    Während sie die Teller abwusch, betrachtete sie das Bild an der Wand vor ihr. In unbeholfenen Bleistiftstrichen, die mit Filzstift ausgemalt waren, stellte es den Salt Tower dar. Große, nicht immer erfolgreiche Mühe war darauf verwendet worden, innerhalb der Linien zu bleiben. Neben dem Turm standen drei lachende Gestalten, zwei große und eine kleine. Nur die Eltern des Künstlers vermochten in dem ebenfalls lachenden Objekt neben der Gruppe die älteste Schildkröte der Welt zu erkennen. In wachsender Verzweiflung starrte Hebe Jones auf das Bild, dessen Farben allmählich zu verblassen begannen.
    Plötzlich hörte sie das dumpfe Geräusch der Tür des Salt Towers. Bald darauf betrat ihr Ehemann die Küche und hielt ihr schweigend eine warme, flache Pappschachtel hin. Hebe Jones deckte den Tisch. Sie konnte auf keinen Fall zugeben, dass sie Pizza nach wie vor hasste, und zwang die weiße Masse, an der sie fast zu ersticken drohte, in kleinen Bissen hinunter. Für den gesamten Rest des Abends war die Atmosphäre im Salt Tower so gespannt, dass sie miteinander sprachen, als dürften sie die Millionen von flatternden Schmetterlingen um sie herum nicht aufschrecken.

KAPITEL DREI
    Hebe Jones stand neben dem Schubschrank mit den einhundertsiebenundfünfzig Gebissen und knöpfte ihren Mantel auf. Das tat sie jeden Morgen, wenn sie ins Fundbüro der Londoner Untergrundbahn kam, sogar im Sommer, denn dieser Jahreszeit misstraute sie in England ganz besonders. Sie hängte den Mantel an den Garderobenständer neben der lebensgroßen aufblasbaren Puppe mit dem roten Loch anstelle des Mundes, ein Objekt, das niemand bislang abzuholen gewagt hatte. Nachdem sie um die Ecke gebogen war, stand sie hinter dem original viktorianischen Schalter, dessen Gitter um diese Zeit geschlossen war. Sie schaute in eines der Register, um sich in Erinnerung zu rufen, was in den letzten Tagen alles abgegeben worden war. Neben den üblichen mehreren Dutzend Regenschirmen und Bestsellerromanen, in denen das Lesezeichen gelegentlich tragisch weit hinten steckte, gehörten ein Rasenmäher, eine russische Schreibmaschine und sechzehn Gläser eingelegten Ingwers zur Ausbeute. Zuletzt war ein verwaister Rollstuhl abgegeben worden und erhöhte die Sammlung des Fundbüros auf die stolze Zahl von neununddreißig – der beste Beweis dafür, dass die Londoner Untergrundbahn Wunder vollbrachte.
    Hebe Jones drückte auf den Knopf des Wasserkochers, der auf dem Safe stand, den man, seit er vor fünf Jahren in der Circle Line gefunden worden war, noch nicht hatte knacken können. Dann öffnete sie den Kühlschrank. Seit einiger Zeit bestand eine Pattsituation hinsichtlich der Frage, wer mit seiner Reinigung dran war, und so hielt sie sich die Milchpackung erst unter die Nase, bevor sie sich etwas in die Teetasse goss, erleichtert, dass der Gestank von dem mittlerweile unidentifizierbaren Zeug im unteren Kühlschrankfach stammen musste. Während sie darauf wartete, dass das Teewasser kochte, betrachtete sie, die den Schmerz des Verlusts stärker spürte als die meisten Menschen, den Friedhof der Fundobjekte in den endlosen, staubigen Metallregalen.
    Die Teetasse in der Hand, ging sie an der langen, schwarzen Kiste vorbei, die dazu bestimmt war, glamouröse Assistentinnen aufzunehmen, damit sie in zwei Teile zersägt werden konnten. Auf ihrem Schreibtisch wartete eine Reihe von Neuzugängen, deren Besitzer sie noch ausfindig zu machen hoffte: ein muffiger, ausgestopfter Vogel in einem Glasbehälter; ein Glasauge; ein Paar spitzer
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