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Der verborgene Charme der Schildkröte

Titel: Der verborgene Charme der Schildkröte
Autoren: Julia Stuart
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Safe zu öffnen, wie es im Büro so Sitte war. Obwohl sie eine neue Zahlenkombination eingab, blieb die graue Stahltür aber fest verschlossen.
    Samuel Crapper, der treueste Kunde des Fundbüros der Londoner Untergrundbahn, stand in einem braunen Cordanzug und einem gestreiften blauen Hemd vor dem Schalter. Seine Stirn war sorgenvoll gefurcht. Als ferner Abkömmling des berühmten Klempners, der mit königlichen Aufträgen nur so überschwemmt worden war, hatte ihm seine Familie die beste private Erziehung angedeihen lassen, die man mit Geld nur kaufen konnte. Sie bezahlten aber einen noch höheren Preis, als sie erwartet hatten. Die grausamen Sprüche auf dem Pausenhof ließen seine Wangen erglühen, und seine Folterknechte erklärten ihm, dass er doch bitte »abziehen möge«. Trotz seiner beharrlichen Proteste, dass keineswegs Thomas Crapper das Wasserklosett erfunden habe, sondern diese Ehre vielmehr dem Patensohn von Elisabeth I., Sir John Harington, zukomme, lag man auf der Lauer und wartete nur auf die Gelegenheit, seinen Kopf in besagte Schüssel zu stecken. Diese traumatische Erfahrung hatte dramatische Folgen für sein Gedächtnis, was er zu kompensieren gedachte, indem er alles doppelt kaufte. Leider machte er sich nicht klar, dass man, wenn man etwas verlor, keinesfalls davor geschützt war, auch den Ersatz zu verlieren.
    Als er Hebe Jones kommen sah, stieg seine Nervosität, weil ihm plötzlich entfallen war, was er verloren hatte. Er starrte zu Boden und fuhr sich mit den Fingern durch das ockerbraune Haar, das nach der jahrelangen Abzieherei nie mehr so richtig glatt am Kopf anliegen wollte. Als er sich an den Gegenstand erinnerte, erschien ein Lächeln auf seinem Gesicht, aber es schwand sofort wieder, als ihm einfiel, dass er nicht mehr in seinem Besitz war.
    »Ist zufällig eine Tomatenpflanze bei Ihnen abgegeben worden?«, fragte er. Es handele sich nicht um eine gewöhnliche Tomatenpflanze, fuhr er fort, sondern um einen Abkömmling der ersten Exemplare, die je in England angebaut worden seien, und zwar von dem Bader John Gerard in den 1590er Jahren. Nach etlichen Jahren komplizierter Kontaktaufnahme mit der Tomatenfachwelt habe er sich den Samen schließlich verschaffen können. Die Pflanze habe so herrliche Früchte hervorgebracht, dass er beschlossen habe, sie in einer Pflanzenschau zu präsentieren. »Dummerweise habe ich sie gestern auf dem Weg dorthin in der Piccadilly Line vergessen«, gestand er. »Mir war außerdem entfallen, dass die Schau erst heute Nachmittag stattfindet.«
    »Einen Moment«, sagte Hebe Jones und verschwand. Nach ein paar Minuten kam sie wieder, die Pflanze in den Händen, und stellte sie ihm schnell hin. »Machen Sie sich keine Gedanken wegen der Fundgebühr«, sagte sie. Auf den üblichen Smalltalk verzichtete sie, verabschiedete sich stattdessen und verschwand ungewöhnlich zielstrebig wieder hinter der Ecke. Samuel Crapper hingegen war überglücklich, presste die Pflanze an seine Cordjacke und ging, ohne die vier fehlenden Tomaten zu bemerken, mit denen Hebe Jones und Valerie Jennings am Tag zuvor ihre Käsesandwiches verfeinert hatten.
    Als Hebe Jones zurückkam, inspizierte ihre Kollegin gerade den Kühlschrank, schon in Erwartung des zweiten Frühstücks, bis zu dem es allerdings noch eine Weile hin war. In diesen heiligen fünfzehn Minuten blieben das Gitter geschlossen und Anrufe unbeantwortet, und die beiden Damen genehmigten sich einen Lady-Grey-Tee in zarten Porzellantassen, die noch der Abholung harrten. Dazu gab es Kuchen oder Kekse oder was auch immer Valerie Jennings mitgebracht hatte.
    Ihr nicht unbeträchtlicher Appetit rührte von jenem Tag her, an dem sie von der Arbeit nach Hause gekommen war und ihrem Ehemann eröffnen wollte, dass man allmählich an die Gründung einer Familie denken sollte. Statt die Nacht zügelloser Leidenschaften einzuleiten, auf die sie gehofft hatte, schaute ihr Ehemann hinter seiner Zeitung hervor und teilte ihr mit der Kälte eines Rechtsanwalts mit, dass er sie verlasse. Ihre Ehe sei ein Fehler gewesen, erklärte er, jemand anderes sei nicht im Spiel. Das Bekenntnis, dass er sie nicht liebe, nahm Valerie Jennings derart mit, dass sie ihn alles allein regeln ließ. Als ein paar Monate später die Scheidung vollzogen war, hörte sie, dass er auf einer karibischen Insel erneut geheiratet hatte – barfuß. Sie warf den Reiseprospekt fort, den sie in seiner Nachttischschublade gefunden hatte, und nun nahm sie auch das
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