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Der verborgene Charme der Schildkröte

Titel: Der verborgene Charme der Schildkröte
Autoren: Julia Stuart
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chinesischer Pantöffelchen mit eingesticktem Lotusmuster; das Tagebuch eines Gigolos, von dem sie hoffte, dass er sich erst meldete, wenn sie es ausgelesen hatte; eine kleine Schachtel, in der sich angeblich ein Hoden von einem gewissen A. Hitler befand, gefunden in der Albert Hall. Auf einem Regalbrett über dem Schreibtisch standen etliche ausgebleichte Dankeskarten, die Hebe Jones als Beweis dafür aufbewahrte, dass die menschliche Natur auch eine sympathische Seite hatte, was man allzu leicht vergaß, wenn man es mit Hinz und Kunz zu tun hatte.
    Sie öffnete eine Schublade, zog ihr Notizbuch hervor und hoffte, die zutiefst befriedigende Aufgabe, Besitztümer mit ihren Besitzern wieder zu vereinen, würde sie von ihren Problemen ablenken. Sie las sich nochmals die Notizen durch, die sie sich bei der Suche nach dem Hersteller des Glasauges gemacht hatte, doch ihre Gedanken kehrten ständig zu ihrem Ehemann zurück.
    Dass ihre Kollegin gekommen war, roch sie, noch bevor sie diese zu sehen bekam. Das warme, in Wachspapier eingewickelte Bacon-Sandwich, das schwungvoll auf dem Nachbarschreibtisch landete, brachte sogar die Oscar-Statue zu Fall, die bereits seit zwei Jahren, acht Monaten und siebenundzwanzig Tagen auf ihre Abholung wartete. Obwohl Hebe Jones ihrer Kollegin schon mehrfach erklärt hatte, dass es sich um eine Nachbildung handele, was durch die vielen unbeantworteten Briefe an die Agentur des Schauspielers noch einmal bestätigt wurde, war Valerie Jennings fest davon überzeugt, dass Dustin Hoffman eines Tages persönlich aufkreuzen und sie abholen würde.
    Jahre der Enttäuschung, die durch vereinzelte spektakuläre Erfolge erträglich gemacht wurden, hatten die beiden Frauen wie Zellenkumpane zusammengeschweißt. Über die Triumphe der jeweils anderen freuten sie sich ebenso königlich wie über die eigenen, und auch die Last des Scheiterns teilten sie miteinander. Es war eine Arbeit mit Höhen und Tiefen, und daher war es das Schlimmste, wenn man gleich morgens von der Langeweile begrüßt und der soundsovielte Schlüsselbund abgegeben wurde. An solchen Tagen sehnten sie sich nach etwas Exotischem oder etwas Essbarem oder, wenn das Schicksal es gut mit ihnen meinte, nach einer Kombination von beidem. In besonders anstrengenden Phasen flüchtete Hebe Jones in die Zauberkiste, um sich mit geschlossenen Augen dort zu vergraben, während Valerie Jennings durch ihre stattliche Statur an derartigen Vergnügungen gehindert wurde und stattdessen auf eine Kiste mit Theaterutensilien zurückgriff. Sie probierte Vollbärte und Schnurrbärte aus und bewunderte die vielen Verwandlungen im Spiegel.
    Die beiden Frauen, die sich wie Geschwister auf die Nerven gingen, aber mit der gleichen Affenliebe auch aneinander hingen, leiteten das Fundbüro der Londoner Untergrundbahn mit einer majestätischen Würde, die nur in Momenten größter Frustration den Umgangsformen gewisser heruntergekommener Etablissements wich. Ihre Ehrlichkeit kannte keine Grenzen. Alles, was von den Mitarbeitern der Untergrundbahn oder von freundlichen Mitbürgern abgegeben worden war, wurde mit mönchischer Akribie in tadellos geführte Bücher eingetragen. Lediglich verderbliche Ware betrachteten die Frauen als ihr Eigentum, zumal sie Derartiges ohnehin nicht länger als vierundzwanzig Stunden aufbewahren durften. Eine klammheimliche Ausnahme machten sie für Geburtstagstorten mit Namenszügen und Gratulationssprüchen obendrauf, denn die rührten ihr Herz stärker, als sie ihren Appetit anregten.
    Die beiden Frauen begrüßten sich mit der beiläufigen Gleichgültigkeit, die sich nach einem guten Jahrzehnt des Nebeneinanders einstellt. Während Hebe Jones mit einem jämmerlichen Quietschen das Metallgitter vor dem Schalter hochzog, untersuchte Valerie Jennings die Oscar-Statue auf Schäden hin und stellte sie dann wieder auf die Füße. Als sie zu ihrem Sandwich griff, sagte ihr plötzlich ihr Instinkt, dass irgendetwas nicht stimmte, und sie löste die obere Scheibe Weißbrot ab. Ihr Verdacht bestätigte sich, und sie verfluchte den Besitzer der Imbissbude, weil er den Ketchup vergessen hatte. Mit der löblichen Zuversicht, die ihr in widrigen Umständen stets zu eigen war, erkundigte sie sich, ob zufällig eine Flasche Ketchup abgegeben worden sei.
    Bevor Hebe Jones antworten konnte, läutete die Schweizer Kuhglocke. Sie erhob sich, um Valerie Jennings in Würde ihr Frühstück einnehmen zu lassen, und versuchte auf dem Weg zum Schalter, den
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