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Der verborgene Charme der Schildkröte

Titel: Der verborgene Charme der Schildkröte
Autoren: Julia Stuart
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beherbergt hatte, zumal er den Touristen oft genug die Überreste des Löwenturms zeigte. Er hätte dem persönlichen Diener Ihrer Majestät auch erzählen können, dass den Elefanten Rotwein zu trinken gegeben worden war, damit sie nicht so froren, und dass man von den Löwen behauptet hatte, sie könnten erkennen, ob ein Mädchen Jungfrau sei – Geschichten, mit denen er die nervigsten Besucher zum Staunen und folglich Verstummen brachte. Stattdessen sagte er kein Wort.
    Oswin Fielding fuhr fort. »Ihre Majestät verbindet damit die große Hoffnung, dass die neue Menagerie die Zahl der Tower-Besucher hebt, da sie in letzter Zeit eher rückläufig war.« Er machte eine Pause, bevor er hinzufügte: »Stark behaarte Gentlemen in altmodischen Uniformen sind heutzutage keine große Attraktion mehr. Nichts gegen Sie, Ihre Hose oder Ihren Bart.«
    Wieder machte er eine Pause, doch die einzig erkennbare Reaktion des Beefeaters war ein Regentropfen, der von seiner Hutkrempe herabtropfte. Langsam löste der Höfling den Blick von der Stelle, wo er gelandet war.
    »Kaum jemand weiß, dass Ihre Majestät eine Vorliebe für Schildkröten hegt«, sagte er. »Ihr ist bekannt, dass Sie im Besitz des ältesten Exemplars der Welt sind, was natürlich eine Quelle großen Stolzes für unsere Nation ist. Ein solches Tier verlangt zweifellos nach der sorgfältigsten Pflege.« Und mit einem triumphierenden Lächeln fügte der Mann vom Palast hinzu: »Die Königin kann sich keinen Besseren vorstellen als Sie, um sich dieses Projekts anzunehmen.«
    Oswin Fielding klopfte Balthazar Jones auf die Schulter und wischte sich dann unter dem Tisch die Hand an seinem Hosenbein ab. Als er aufstand, bat er den Beefeater eindringlich, niemandem und vor allem nicht dem Chief Yeoman Warder von der Sache zu erzählen, da die Details noch zu klären seien. »Wir hoffen, die Tiere Ihrer Majestät innerhalb der nächsten drei Wochen umsiedeln zu können. Sie bekommen dann ein paar Tage, um sich einzugewöhnen, bevor die Menagerie fürs Publikum geöffnet wird«, sagte er.
    Mit der Ankündigung, sich demnächst zu melden, zog er seinen Mantel an und schritt mit seinem prächtigen Schirm hinaus. Balthazar Jones blieb vollkommen erstarrt auf dem roten Lederhocker sitzen. Die gewaltige Aufgabe, sich zu erheben, bewältigte er erst, als ihn die aufgebrachte Wirtin hinausscheuchte, weil der Gestank von Mottenkugeln ihren Kanarienvogel umgehauen und ins Spülwasserbecken hatte kippen lassen.
    Es hatte zu regnen aufgehört, als Hebe Jones zum Tower zurückkehrte. Wegen ihrer Kopfschmerzen war sie früher als sonst von der Arbeit aufgebrochen. Der Himmel hatte immer noch die Farbe von abgestandenem Badewasser und wartete nur darauf, eine zweite schmutzige Ladung auszuschütten. Sie nickte dem Yeoman Gaoler zu, dem stellvertretenden Chief Yeoman Warder, der in seinem schwarzen Kabuff am Eingang des Towers saß und es nur einem schwächlichen Heizgerät verdankte, dass die Nässe nicht seine Zehen zersetzte. Als er sich nach dem Besucher aus dem Palast erkundigte, erklärte Hebe Jones, dass es einen solchen nicht gegeben habe, weil ihr Ehemann sie sonst angerufen und ihr davon erzählt hätte. Der Beefeater bekräftigte seine Beobachtung allerdings mit der akribischen Aufzählung von neun Augenzeugen.
    »Treib keine Wurzeln, wo du nicht hingepflanzt wurdest«, fauchte Hebe Jones und trat durch das erste Tor. Bald schon wurde ihr der Weg von einem Pulk Touristen versperrt, die sich die Reihenhäuser der Beefeater an der Mint Street anschauten. Das Gewicht der Supermarkteinkäufe lastete schwerer denn je in ihren Händen, als sie sich in Richtung Water Lane durchkämpfte und wünschte, die Besucher würden ihre verrückte Schwäche für die englische Geschichte woanders ausleben. Auf Höhe des Cradle Towers knallte ihr mit voller Wucht ein Rucksack gegen die Brust, weil sein Besitzer sich dem Fenster zuwandte, von dem aus im sechzehnten Jahrhundert zwei Gefangene ein Seil über den Wassergraben gespannt und so die Flucht geschafft hatten. Sobald sie wieder zu Atem kam, ging sie weiter und sah nur noch das griechische Häuschen ihrer Träume vor sich.
    Am Salt Tower suchte sie nach dem Schlüssel, der in keine Hosentasche passte, und stellte fest, dass er sich in das Futter ihrer neuen Handtasche gebohrt hatte. Nachdem sie ihn im Schloss herumgedreht hatte, wozu sie beide ihrer puppenhaft kleinen Hände brauchte, stieg sie mit der Hälfte der Tüten die Wendeltreppe
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