Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der verborgene Charme der Schildkröte

Titel: Der verborgene Charme der Schildkröte
Autoren: Julia Stuart
Vom Netzwerk:
gefunden hatte. Danach waren die Plagegeister schnell wieder zurückgekehrt, angelockt von den neuen, schmackhaft gepolsterten Kniebänken. Eine ganze Reihe von Kaplänen hatten sie dazu getrieben, Soutanen zu tragen, die weit über dem staubigen Kapellenboden endeten, damit sie nicht angenagt werden konnten, wenn sie ins stille Gebet versunken waren. Sobald man sich allerdings niederkniete, kam man gegen die Nagezähne nicht mehr an. Für Rev. Septimus Drew war die radikale Kürzung der Soutanen eine Demütigung zu viel, und so widmete er sich nun schon seit elf Jahren der Vernichtung der Kreatur, die nicht einmal eine Erwähnung in der Bibel wert war.
    Seit er seinen Posten bekleidete, arbeitete er unermüdlich daran, bescheidene Mausefallen in Apparaturen umzuwandeln, die stabil genug waren, um einer Ratte den Garaus zu machen. Zunächst richtete er sich in einem der leeren Schlafzimmer, in denen eigentlich die von ihm ersehnte Familie hätte wohnen sollen, eine Werkstatt ein. Bis spät in die Nacht arbeitete er dort an seinen Erfindungen. Im Regal standen Bücher über die Grundlagen der Ingenieurskunst, und auf einem Schreibtisch lagen etliche maßstabgetreue Zeichnungen, die er aufgerollt und mit kümmerlichen Grünlilien beschwert hatte. Eine Reihe von Modellen aus Pappe, ausgesägten Holzteilen und Gartenschnur standen auf einem anderen Tisch. Das Waffenlager umfasste eine winzige Murmelschleuder, eine kleine, scharfe Klinge, die einst Teil einer Guillotine gewesen war, eine Miniaturwurfmaschine und einen kleinen Kasten mit Löchern, durch die von oben die tödlichen Substanzen reingetröpfelt werden konnten.
    An der Kapelle angekommen, drückte er die kalte Türklinke hinunter. In der Hoffnung, eine große Anzahl an Kadavern vorzufinden, trat er ein und schritt über die ausgetretenen Steinplatten zur Tür der Krypta. Als er sich dem Grab von Thomas Morus näherte, wo er seine jüngste Apparatur aufgestellt hatte – zwei Monate Planungs- und Entwicklungszeit und einen Anruf bei einem Waffenexperten im Kriegsmuseum hatte sie ihn gekostet –, hörte er plötzlich ein Geräusch im Hauptschiff der Kapelle. Verärgert, dass er in einem so bedeutenden Moment gestört wurde, ging er zurück, um die Geräuschquelle zu identifizieren.
    Seine Wut schwand, als er die Gestalt erkannte, die sich in der ersten Stuhlreihe direkt vor dem Altar niedergelassen hatte. Der Anblick der Frau, die ihm schlaflose Nächte bereitete, traf ihn unvorbereitet, und so versteckte er sich hinter einer Säule und legte seine Hände an den kalten, glatten Stein. Monatelang hatte er auf einen solchen Moment gewartet: die Möglichkeit, alleine mit ihr zu sein, ihre Hand in die seine zu nehmen und sie zu fragen, ob irgendeine Hoffnung bestand, dass sie dasselbe für ihn empfand wie er für sie. Während er sich über die Vorteile einer so altmodischen Herangehensweise immer noch nicht im Klaren war, erschien sie ihm dennoch als die beste von allen, die er je erwogen hatte. In seinen wehmütigen Fantasien, in denen er sich mit Blick auf die Grünanlagen des Towers ergangen hatte, waren seine Zähne allerdings geputzt und seine Haare ordentlich zu der Frisur zurechtgekämmt gewesen, die er erstmals im Alter von acht Jahren getragen hatte. Er verfluchte sich selbst, dass er das Haus mit einer Fahne verlassen hatte, und als er an sich hinabschaute und die nackten Knöchel sah, bedauerte er zutiefst, sich nicht die Zeit genommen zu haben, Socken anzuziehen.
    Während er noch mit sich haderte, weil er sich in einem so unappetitlichen Zustand befand, hallte plötzlich ein lautes Schluchzen durch das alte Gemäuer. Unfähig, eine leidende Seele sich selbst zu überlassen, beschloss er, sie trotz seiner desolaten Erscheinung zu trösten. In diesem Moment ertönten in der Krypta ein dumpfes Geräusch und ein hoher Schrei. Die Frau sprang auf und ergriff die Flucht, zweifellos aus Angst vor einem der vielen Gespenster, die angeblich im Tower ihr Unwesen trieben. Rev. Septimus Drew blieb, wo er war, und malte sich die ganze Szene noch einmal aus, allerdings mit einem spektakulär anderen Ende, in welchem der Weihrauch, den er massenhaft abbrannte, um den Gestank des Rattendrecks zu überdecken, um seine hageren Knöchel waberte. Als er schließlich in die Krypta zurückkehrte, trug keine einzige abgeschlachtete Ratte dazu bei, seine Laune zu heben.
    Als Balthazar Jones sich nach dem verheerenden Frühstück dazu aufgerafft hatte, seinen Dienst
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher