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Der verborgene Charme der Schildkröte

Titel: Der verborgene Charme der Schildkröte
Autoren: Julia Stuart
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in einem Fass seines geliebten Malmsey-Weins ertränkt habe. Schweißgebadet von der Liebe, hob sie den Kopf von der Brust ihres Mannes und bat ihn nicht etwa um die Beteuerung seiner ewigen Zuneigung, sondern um den Namen des Diebs aus dem siebzehnten Jahrhundert, der es mit den Kronjuwelen bis zum Tower-Kai geschafft hatte. Als schließlich der Vertrag in der Post lag, war sein Gehirn mit englischer Geschichte derart vollgestopft, dass er sich für den Rest seines Lebens nur noch damit beschäftigen konnte.
    Rev. Septimus Drew erwachte in seiner dreistöckigen Behausung, die auf die Grünanlagen des Towers hinausschaute, und sah auf den Wecker. Noch war es ein wenig hin, bis man die Tore des Middle Towers öffnen und die verhassten Touristen hereinlassen würde, von denen die Schlimmsten glaubten, Queen Mum lebe noch. Manchmal stand der Kaplan sogar noch früher auf, um diese wunderbare Tageszeit zu genießen. Der Ort war nie derselbe, wenn die höllischen Horden abends wieder verschwanden und schnell die Tore hinter ihnen geschlossen wurden, denn der Gestank in der Kapelle erinnerte bis Anbruch der Nacht an den eines Stalls.
    Seine Gedanken wanderten zu der neuen, ausgeklügelten Mausefalle, die er am Abend zuvor aufgestellt hatte. Mit der wachsenden Begeisterung eines Kindes, das bald den Inhalt seines Weihnachtsstrumpfes erkunden darf, fragte sich der Geistliche, was er wohl darin vorfinden würde. Unfähig, länger zu warten, schwang er seine Beine aus dem Bett und öffnete das Fenster, um den Raum von den Ausdünstungen unerwiderter Liebe zu befreien. Kondenswasser rann über die Scheibe. Schnell kleidete er sich an, auch wenn seine langen, heiligen Finger immer noch steif waren von den anstrengenden Verrichtungen in seiner Werkstatt am Abend zuvor. Über Hose und Hemd zog er die rote Soutane, dann schob er umständlich die nackten Füße in die Schuhe, weil er sich nicht die Mühe machen wollte, sie aufzuschnüren. Als er die beiden Treppen hinuntereilte, raffte er, um nicht zu stolpern, seine Soutane vorne zusammen, während der Rücken wie rote Farbe die ausgetretenen Holzstufen hinabfloss. Obwohl er ein Glas Sevilla-Orangen-Marmelade, grob geschnitten, von Fortnum & Mason gekauft hatte, verzichtete er aufs Frühstück und eilte vorbei an der kleinen Küche mit dem Fenster, das auf die Grünanlagen des Towers hinausschaute und mit einer Gardine zugehängt war, damit die Touristen nicht hereinglotzen konnten. Nicht dass sie das davon abhalten würde, es zu versuchen. Wenn der Kaplan aus seiner blauen Tür trat, überraschte er nicht selten jemanden dabei, wie er, auf den Zehenspitzen balancierend, seine Hände an die Fensterscheibe presste.
    Sein pechschwarzes Haar war noch in wildem Aufruhr, als er die kurze Strecke über das Pflaster zu der Königlichen Kapelle St. Peter ad Vincula ging. Er hatte sich nie damit abfinden können, dass sie in die Besichtigungstour der Beefeater eingeschlossen worden war. Viele Besucher ignorierten die Anweisung, vor dem Eintreten den Hut abzunehmen, und mussten im Innern von einem der ehemaligen Soldaten dazu ermahnt werden. Manche besuchten sogar den Sonntagsgottesdienst, wo der Kaplan dann mit wachsender Wut vom Altar aus beobachten konnte, wie sie zwischen den Beefeatern saßen und in der Gegend herumschauten. Ihr Staunen hatte wenig damit zu tun, dass sie sich im Hause Gottes befanden, sondern vor allem mit dem schaurigen Gefühl, sich an einem Ort zu befinden, an welchem die zerhackten Überreste von drei vor der Kapelle geköpften Königinnen aufbewahrt wurden.
    Natürlich machte er die Touristen für die Rattenplage verantwortlich, da sie, wenn man den Beefeatern Glauben schenken durfte, alles mit den verführerischen Resten ihrer Snacks vollkrümelten. Dabei waren die Besucher vollkommen schuldlos, weil alle Nahrungsmittel, die sie im Tower-Café erwarben, nach dem ersten Bissen sofort im nächsten Abfalleimer landeten. In Wahrheit stammte die gegenwärtige Rattenpopulation von den Nagern ab, die bereits kurz nach dem Bau von St. Peter dort eingezogen waren. Die Kapelle war außerhalb der Mauern des Towers als gewöhnliche Stadtkirche errichtet und erst im Zuge der Erweiterung der Festung durch Heinrich III. in den Komplex einbezogen worden. Nur als die Kapelle umgebaut worden war, zwei Mal insgesamt, hatten sich die Ratten verzogen, und dann noch ein drittes Mal, als man das Gebäude im neunzehnten Jahrhundert renoviert und über tausend Leichen unter dem Fußboden
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