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Der verborgene Charme der Schildkröte

Titel: Der verborgene Charme der Schildkröte
Autoren: Julia Stuart
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anzutreten, stieg er in die dunkelblaue Hose und zog die passende Uniformjacke mit den roten Buchstaben ER auf der Brust und der roten Krone darüber an. Er nahm seinen Hut oben aus dem Kleiderschrank und setzte ihn sich mit beiden Händen auf. Wie alle Beefeater hatte er die viktorianische Uniform anfangs mit großem Stolz getragen, aber bald schon war sie zu einem steten Ärgernis geworden. Im Sommer war sie unerträglich heiß und im Winter unerträglich kalt. Außerdem kratzte sie, weil sie zweimal im Jahr mit massenhaft Mottenschutzmitteln eingesprüht wurde, wobei die Beefeater, damit die Uniformteile nicht aus der Form gerieten, höchstpersönlich darin stecken mussten.
    Er stieg die Treppe des Salt Towers hinab, schloss die Tür hinter sich, wandte sich nach rechts und ging am Tower-Café vorbei. Man hatte ihm den Posten vor den Waterloo Barracks zugewiesen, wo die Kronjuwelen aufbewahrt wurden, und er hielt lieber Abstand zu dem Wachmann, der in der vergangenen Woche einen Faustkampf mit einem Beefeater gewonnen hatte. Instinktiv glitten seine blassblauen Augen über den Himmel, und seine Gedanken folgten den Wolken auf ihrem Weg nach Croydon, wo sie ihren Inhalt über die Wäsche der Bewohner ergießen würden. Dann besann er sich, weshalb er eigentlich hier war, und wappnete sich für das Bombardement alberner Fragen von Seiten der Touristen, die bereits in den Tower zu strömen begannen.
    Eine Stunde später fing es an zu regnen, aber Balthazar Jones merkte es nicht einmal. Sein Wissen war so gewaltig, dass sein Unterbewusstsein das Nass sofort als völlig gewöhnlichen Januar-Niederschlag abtat. Also starrte er weiterhin in den Himmel, ohne etwas zu sehen, während die Besucher sich längst irgendwo untergestellt hatten. Als der Mann vom Palast ihn schließlich fand, stand er immer noch am selben Fleck, vollkommen durchnässt und einen strengen Geruch nach Mottenschutzmitteln verströmend. Er hörte, wie jemand seinen Namen aussprach, drehte den Kopf in die Richtung, und von seiner Nasenspitze fiel ein Tropfen auf die rote Krone, die auf seine Brust gestickt war. Sofort hielt der Mann in dem trockenen Mantel seinen mit einem Silberknauf versehenen Schirm über ihn. Er stellte sich als Oswin Fielding vor, persönlicher Diener Ihrer Majestät, und fragte, ob er kurz mit ihm sprechen könne. Balthazar Jones rieb sich schnell über den Bart, um das Wasser abzuwischen, merkte dann aber, dass seine Hand nun zu nass für einen Händedruck war. Der Mann vom Palast schlug vor, dass man im Tower-Café einen Tee trinken könne, aber als sie sich dem Gebäude näherten, schnüffelte er zweimal, verzog ob dieser Zumutung für die Geruchsknospen das Gesicht und begab sich dann direkt zum Rack & Ruin.
    In der Schenke, zu der die Öffentlichkeit keinen Zugang hatte, befand sich nur die Wirtin, die den Käfig ihres Kanarienvogels säuberte. Oswin Fielding schritt an den leeren Tischen vorbei und wählte einen an der Rückwand. Dann hängte er seinen Mantel auf und ging zur Theke. Balthazar Jones, der vergaß, seinen Hut abzunehmen, setzte sich und versuchte, sich von der Angst vor den möglichen Anliegen dieses Mannes abzulenken, indem er das gerahmte Autogramm von Rudolf Heß an der Wand betrachtete. Ein Beefeater hatte es bekommen, als der Stellvertreter des Führers vier Tage im Tower eingesperrt gewesen war. Balthazar Jones hatte es allerdings schon so oft betrachtet, dass es seine Aufmerksamkeit nicht wirklich fesseln konnte.
    Die Hoffnung des Beefeaters, Oswin Fielding möge sich vom Real Ale verlocken lassen, schwand, als der Mann mit zwei Tassen Tee und dem letzten Kitkat zurückkam. Schweigend schaute er zu, wie der Mann vom Palast das rote Papier entfernte und ihm die Hälfte des Schokoriegels anbot, was er wegen seiner nervösen Eingeweide ablehnte. Der persönliche Diener Ihrer Majestät tauchte jeden Riegel in den Tee, bevor er ihn aß, dehnte die Mahlzeit so auf die doppelte Länge aus und erkundigte sich eingehend nach der Geschichte des Rack & Ruin. Balthazar Jones antwortete so knapp wie möglich und wies auch nicht darauf hin, dass der Mann Schokolade am Kinn hatte, damit er nicht länger um das Wesentliche herumredete. Als der Höfling das gerahmte Autogramm von Rudolf Heß entdeckte, tat der Beefeater es schnell als Fälschung ab, weil er es nicht länger ertragen konnte, darauf zu warten, dass das Fallbeil des Henkers endlich auf ihn herabsauste.
    Zu seinem großen Ärger redete Oswin Fielding
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