Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der verborgene Charme der Schildkröte

Titel: Der verborgene Charme der Schildkröte
Autoren: Julia Stuart
Vom Netzwerk:
fühlte wieder diese freudige Erregung. Bei solchen Gelegenheiten vergaß er, leichtfüßig wie eine Gazelle zu laufen, und polterte mit seinen nackten, an ein rissiges Flussbett erinnernden Fersen über den abgewetzten Teppich. Er drückte die Nase und den weißen Bart an die Scheibe, die von früheren Inspektionen schon ganz verschmiert war, und schaute hinaus. Der Boden war noch trocken. Mit wachsender Verzweiflung suchte er am Nachthimmel nach den Regenwolken, die für den unleugbaren Geruch verantwortlich sein mussten. In seiner Panik, den Moment zu verpassen, auf den er schon länger als zwei Jahre wartete, eilte er an dem großen Steinkamin vorbei auf die andere Schlafzimmerseite. Sein Magen, der vom Lammfleisch am Abend noch übersäuert war, meldete sich.
    Der Beefeater griff nach seinem Morgenmantel mit den verräterischen Krümeln verbotener Kekse in den Taschen, zog ihn über den Schlafanzug, vergaß seine karierten Pantoffeln und öffnete die Schlafzimmertür. Das Geräusch des Türriegels hörte er ebenso wenig wie das darauf folgende unverständliche Gebrabbel seiner Frau, der jetzt eine Strähne ins Gesicht fiel. Die Finger am schmierigen Seilhandlauf, stieg er die leichenkalten Stufen hinab. In der freien Hand hielt er die ägyptische Parfümflasche, mit welcher er ein wenig von dem Niederschlag aufzufangen hoffte. Am Fuß der Treppe kam er an dem Zimmer seines Sohns vorbei, das er seit jenem schrecklichen, schrecklichen Tag nicht mehr betreten hatte. Langsam schloss er die Tür des Salt Towers, in dem sie seit acht Jahren wohnten, hinter sich zu und beglückwünschte sich zu seinem erfolgreichen Abgang. Das war der Moment, in dem seine Frau erwachte. Hebe Jones fuhr mit der Hand über das Bettlaken, das man ihnen vor all den Jahren zur Hochzeit geschenkt hatte, aber ihren Ehemann fand sie nicht.
    Seit fast drei Jahren sammelte Balthazar Jones nun schon Regenproben, ein Zwang, der kurz nach dem Tod seines einzigen Kindes eingesetzt hatte. Zunächst hatte er Regen lediglich für einen unerträglichen Teil seiner Arbeit draußen im Freien gehalten. Aber auch in den abscheulichen Unterkünften war es feucht, und die ewige Nässe führte dazu, dass sämtliche Beefeater zu Opfern eines Pilzbefalls wurden, der sich hartnäckig in den Kniekehlen festsetzte. Als sich die Monate nach der Tragödie mühsam voranschleppten, ertappte sich Balthazar Jones aber dabei, dass er, obwohl er eigentlich auf professionelle Taschendiebe Acht geben sollte, ständig zu den Wolken hinaufschaute, erstarrt in einem Zustand unbezwingbarer Trauer. Und während er in den Himmel blickte und kaum atmen konnte, weil die Schwere der Schuld auf seiner Brust lastete, bemerkte er plötzlich Unterschiede in den Regenschauern, die ihn unterschiedslos zu durchnässen pflegten. Bald hatte er bereits vierundsechzig Arten identifiziert und in einem Notizbuch verzeichnet, das er extra zu diesem Zweck angeschafft hatte. Es dauerte nicht lange, und er erwarb eine ganze Ladung ägyptischer Parfümflaschen, die er nicht so sehr wegen ihrer Schönheit ausgewählt hatte als wegen ihrer Eigenschaft, ihren Inhalt zu konservieren. In diesen Flaschen sammelte er nun Proben und notierte Uhrzeit, Datum und die genaue Art des gefallenen Regens. Sehr zum Ärger seiner Frau ließ er eine Vitrine dafür anfertigen, die er unter erheblichen Schwierigkeiten an der runden Wohnzimmerwand anbrachte. Bald schon war sie voll, und er bestellte zwei weitere Vitrinen. Auf Geheiß seiner Frau musste er sie in dem Raum ganz oben im Salt Tower unterbringen, in den sie nie einen Fuß setzte, weil ihr die Kreidezeichnungen der deutschen U-Boot-Fahrer, die während des Zweiten Weltkriegs dort inhaftiert gewesen waren, einen Schauer über den Rücken jagten.
    Als seine Sammlung auf stolze einhundert Flaschen angewachsen war, versprach der Beefeater seiner Frau, das Ganze zu beenden. Mittlerweile hasste Hebe Jones schlechtes Wetter nämlich noch mehr, als man es von einer Griechin erwarten würde – einer Griechin zumal, die nicht einmal schwimmen konnte. Eine Weile sah es tatsächlich so aus, als wäre er von seiner Marotte geheilt. In Wahrheit war es aber so, dass England eine Phase äußerster Trockenheit erlebte, und sobald der erste Tropfen wieder fiel, nahm der Beefeater seine zwanghafte Gewohnheit wieder auf, obwohl er vom Chief Yeoman Warder schon dafür getadelt worden war, dass er in den Himmel schaute, statt die nervtötenden Fragen der Touristen zu
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher