Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Vampir, den ich liebte

Der Vampir, den ich liebte

Titel: Der Vampir, den ich liebte
Autoren: Beth Fantaskey
Vom Netzwerk:
nicht besonders hell, aber
trotzdem meilenweit zu sehen. Nur wenige Leute sind nachts unterwegs. Die
Straße ist zu gefährlich – und das Ziel viel zu trügerisch.«
    »Das ist
also der Grund, warum das Tor offen stand. Du wusstest, dass ich auf dem Weg
hierher war.«
    »Ganz
genau. Ich wollte sehen, wie weit du gehen würdest.« Er kam auf mich zu, die
Hände hinterm Rücken verschränkt. »Ich muss zugeben, du bist weiter gekommen,
als ich je für möglich gehalten hätte. Du hast es beinahe bis in mein Haus
geschafft.«
    »Ich hab
keine Angst im Dunkeln«, log ich.
    Lucius kam
noch näher. Er wirkte bedrohlich. »In diesen Wäldern gibt es Wölfe«, sagte er,
wobei er sich vorbeugte, um mein Gesicht zu betrachten. »Und ich fürchte, sie
hätten große Mühe, einem so verlockenden Leckerbissen wie dir zu widerstehen.
Vor allem in diesem prächtigen blutroten Kleid.«
    Ich schaute
auf mein Kleid hinab, während Lucius mich umkreiste, mich musterte; es war eine
Parodie dessen, was er vor Monaten in der Scheune meiner Eltern getan hatte, an
dem Tag, an dem wir uns das erste Mal begegnet waren. Er hatte sich seither
verändert – aber ich auch. Verschwunden waren meine schmutzigen Stiefel, mein
ausgeleiertes T-Shirt. Rote Seide glänzte im Mondlicht.
    »Hast du
jemals ›Rotkäppchen‹ gelesen, Jessica?«, fragte Lucius, der immer noch
langsam und immer dichter um mich herumging. »Weißt du nicht, was Unschuldigen
widerfährt, die allein durch dunkle Wälder wandern?«
    Ein
seltsamer Schauer lief mir über den Rücken – Angst, gemischt mit Vorfreude.
Lucius war so nah – und doch nicht nah genug. Ich konnte seine schwarzen Augen
in der Dunkelheit nicht sehen. Ich konnte seine Stimmung nicht recht
einschätzen. War diese Spielerei die Einleitung zu einem Kuss – oder würde er
mich gleich mit einem Pfahl durchbohren?
    Du setzt
dein Leben auf Ersteres, Jess.
    »Ich weiß
nicht mehr, wie es ausgeht, Lucius«, erwiderte ich. »Das ist doch nur ein
Märchen für kleine Kinder.«
    »Oh, es ist
eins meiner Lieblingsmärchen«, sagte er und blieb hinter mir stehen. Ich spürte
ein Kribbeln im Nacken und fühlte mich verwundbar mit ihm im Rücken. »Der Ursprung
der Geschichte ist nicht bekannt«, fuhr er fort. »Und es gibt viele Versionen.
In einigen wird das kleine Mädchen gerettet. Aber ich liebe besonders das
Ende, das Peraullt in der klassischen Version überliefert.«
    »Wie ...
wie endet diese Version?«, fragte ich, ohne mich zu bewegen.
    »›Großmutter,
warum hast du so große ZÄHNE ?‹«, rezitierte Lucius und beugte sich so dicht
über meine Schulter, dass seine Lippen mein Ohr streiften. »›Damit ich dich
besser fressen kann.‹ Und mit diesen Worten stürzt sich der böse Wolf auf
Rotkäppchen – und frisst es mit Haut und Haaren.«
    Ich
schauderte, als er die Geschichte erzählte, teils, weil er mir so nah war,
teils wegen der offensichtlichen Wonne, mit der er das schreckliche Ende
aufsagte.
    »Was für
ein einfaches, befriedigendes Ende, oder, Jessica?« Er lachte leise.
    »Ich mag
lieber Happy Ends.«
    Lucius
lachte noch lauter. »Ist es das nicht – für den Wolf? Warum betrachten Menschen
so etwas immer aus der falschen Perspektive? Auch Raubtiere verdienen unser
Mitgefühl.«
    »Ich bin
nicht hergekommen, um über Märchen zu reden«, erklärte ich und durchbrach den
finsteren Bann. Er fing wirklich an, mich zu beunruhigen.
    »Dann lauf
nach Hause, Rotkäppchen«, sagte Lucius, fasste mich an den Schultern und drehte
mich in die Richtung, in der der Wagen stand. »Es ist spät und du läufst Gefahr,
Wolfsfutter zu werden. Was sollte ich dann deinen Eltern schreiben? Dass ich
zugelassen habe, dass Jessica aufgefressen
wurde, in Stücke gerissen, nachdem die beiden so gastfreundlich zu mir waren?«
    Ich
schauderte wieder, doch diesmal lag es im Wesentlichen an der Kälte hier
draußen. Abrupt drehte ich mich um und schüttelte ihn ab. »Lass uns reingehen,
um zu reden. Ich bin hergekommen, um dir einen Handel vorzuschlagen.«
    Lucius
hielt verwundert inne, den Kopf schräg gelegt. »Einen Handel? Mit mir? Aber du
hast nichts, womit du handeln könntest.« Ich konnte erkennen, dass er neugierig
geworden war. »Oder?«
    »Doch. Ich
denke, schon.«
    »Und dieser
Handel ... endet er damit, dass du nach Pennsylvania zurückkehrst, wo du
hingehörst?«
    »Er könnte
damit enden, dass ich gehe«, antwortete ich. Aus dieser Welt. Für immer.
    »Du weckst
mein Interesse«, gab Lucius zu und
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher