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Macabros 050: Rha-Ta-N'mys Leichenschlucht

Macabros 050: Rha-Ta-N'mys Leichenschlucht

Titel: Macabros 050: Rha-Ta-N'mys Leichenschlucht
Autoren: Dan Shocker
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Am Vorabend seines Todes äußerte der alte Mann einen
Wunsch: »Ich habe fast alle seine Filme gesehen«, sagte er
zu der Pflegerin, die seit drei Wochen Tag für Tag in das Haus
des Kranken kam und sein Sterben miterlebte. Er hatte es abgelehnt,
einen Arzt hinzuzuziehen. Ronald Martin wußte, daß seine
letzte Stunde gekommen war. Er wollte nicht durch Infusionen und
elektronische Geräte eine künstliche
Lebensverlängerung bewirken. Der Alte war der Überzeugung,
daß das natürliche Ende nicht durch irgendwelche
Manipulationen hinausgezögert werden sollte. »Ich habe
deshalb einen Wunsch, Miss Gendine: ich möchte ihn gern
persönlich kennenlernen.« Er lächelte schwach, und auf
dem alten, runzligen Gesicht mit den klugen Augen zeigte sich ein
verklärter Ausdruck. »Er hält sich zur Zeit im
Regent-Hotel in Houston auf. Eine knappe Fahrstunde von hier. Tun Sie
mir diesen letzten Gefallen, Mrs. Gendine! Überbringen Sie Joe
Octlan eine schriftliche Nachricht von mir.«
    Miss Gendine sah den Kranken mit einem seltsamen Blick an.
»Natürlich werde ich das für Sie tun.«
    »Aber Sie dürfen niemand etwas davon erzählen.
Versprechen Sie mir das?«
    Gwendolyn Gendine nickte: »Selbstverständlich, Mister
Martin. Da können Sie sich ganz auf mich verlassen.« Im
stillen sagte sie sich, daß Ronald Martin wohl schon nicht mehr
ganz bei sich war. Was wollte der über Achtzigjährige nur
mit einem jungen Mann, der völlig fremd für ihn war und der
im Rampenlicht der Öffentlichkeit stand? Es war kaum anzunehmen,
daß Joe Octlan das Regent verließ, um sich hierher in das
baufällige Haus zu begeben, in dem der sonderbare
Einzelgänger Ronald Martin seit gut fünfzig Jahren
lebte.
    »Gehen Sie doch bitte mal an die Vitrine, Miss Gendine«,
murmelte der alte Mann, und seine wächserne Hand, die mit
bläulich hervortretenden Adern überzogen war, deutete
zitternd in die angegebene Richtung. »In der mittleren
Schublade… bei all den Papieren… da liegt ein Brief ganz
oben drauf… ich habe ihn vor vierzehn Tagen geschrieben, da war
ich noch nicht so schwach. Der Brief ist an die Heimatadresse Octlans
gerichtet. Da konnte ich noch nicht wissen, daß er eine Reise
nach Houston plant und praktisch sich in meiner Nachbarschaft
aufhalten würde. Es gibt im Leben manchmal merkwürdige
Zufälle, finden Sie nicht auch?«
    »Doch. Da muß ich Ihnen zustimmen«, nickte Miss
Gendine ernst.
    Sie nahm den vorbereiteten und verschlossenen und an Filmregisseur
und -produzent gerichteten Brief an sich.
    »Ich habe die ganze Zeit noch damit gezögert«, fuhr
Martin mit leiser Stimme fort. Seine schmalen, trockenen Lippen
bewegten sich kaum. »Ich wußte ja nicht, wie es um mich
steht… aber seit gestern abend weiß ich es. Und einen
letzten Wunsch – den soll man sich schließlich auch ganz
zuletzt erfüllen. Sonst wäre es ja nicht der letzte, nicht
wahr?«
    Er öffnete die Augen einen Spaltbreit, und um seine Lippen
zuckte ein seltsames, rätselhaftes und unergründliches
Lächeln.
    Gwendolyn Gendine hörte die Worte und dachte sich ihren
Teil.
    Sie war überzeugt davon, daß Joe Octlan den Brief nicht
mal lesen würde.
    Warum sollte er auch? Martin war ein Fremder für ihn, und
Octlan hätte viel zu tun, wenn er diesen alten Mann einfach
besuchen würde. Ronald Martin war entweder ein bißchen
verrückt, oder er befand sich schon im Delirium.
    Gwendolyn Gendine war eine etwas herbe Frau und konnte es sich
nicht verkneifen zu sagen: »Meinen Sie denn wirklich, daß
das Ganze einen Sinn hat, Mr. Martin? Ich möchte Sie nicht
enttäuschen, ich werde gern für Sie nach Houston fahren
– aber versprechen Sie sich denn etwas davon? Mister Octlan ist
ein berühmter Regisseur. Sie haben jeden seiner Filme
gesehen.«
    Ronald Martin lachte leise und unterbrach sich.
»Einmal?« fragte er wispernd. »Fünfmal…
zehnmal habe ich mir einen Streifen angesehen, um zu wissen, wie er
das gemacht hat. Er ist ein großer Künstler, ich muß
ihn kennenlernen – ehe es mit mir zu Ende geht.«
    »Aber…«
    Er schüttelt den Kopf. »Ich möchte nicht mehr
darüber reden, Miss Gendine. Tun Sie mir bitte den Gefallen, um
den ich Sie bitte! Es wird nicht Ihr Schaden sein…«
    Das wußte die Pflegerin. Ronald Martin war in seinem langen
Leben keinem Menschen etwas schuldig geblieben. Er lebte selbst
bescheiden und hatte keine großen Ansprüche gestellt. Wer
ihm zum erstenmal begegnete, mochte glauben, daß dieser
ärmlich aussehende Mann nicht
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