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Der unsichtbare Zweite

Der unsichtbare Zweite

Titel: Der unsichtbare Zweite
Autoren: Carlo Fruttero
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mehr mir selbst ganz verständlich sind. Ohnehin ist es ja in der Politik häufig so, jedenfalls meiner Meinung nach, dass sich die Zugehörigkeiten, Zusammenschlüsse, Spaltungen, Wiederannäherungen mit der Zeit vermischen wie Wellen, die einen fortgetragen und an irgendeinen Strand gespült haben. Wenn man sich umdreht, um auf sie zurückzuschauen, kommen sie einem alle gleich vor.
    Ich möchte oder kann damit natürlich nicht die jedem Journalisten zugänglichen Tatsachen leugnen, also meinen Weg (von Karriere zu sprechen wäre wirklich übertrieben) von einer großen Partei zu einer mittelgroßen und dann zu einer ziemlich bunt zusammengewürfelten Gruppierung, die sich bald darauf in zwei Teile spaltete, aus deren einem hinwiederum meine gegenwärtige Partei hervorgegangen ist. Etappen, die mich viel Anstrengung und Leid und Tausende von Telefonaten gekostet haben, Hunderte von Treffen und verrauchten Versammlungen (ich selbst rauche nicht und hasse das passive Mitrauchen), im Dunkel der Nacht auf langen Alleen und in wie zufällig aufgesuchten Winkeln getroffene Absprachen, die am nächsten Tag wieder umgestoßen wurden. »Unser Standpunkt ist völlig klar«, ist ein Satz, den ich in vierzehn Jahren unzählige Male gesagt habe und habe sagen hören. Aber welche Standpunkte waren das eigentlich? Fragt mich etwas Leichteres!
    Ich erinnere mich höchstens an gewisse immer wiederkehrende Formulierungen, vergleichbar dem Refrain eines alten Schlagers, den man halblaut im Badezimmer vor sich hin singt. An zwei Formulierungen vor allem: »Die wollen uns bloß wieder eins auswischen!« und: »Diesmal wischen wir denen eins aus!« Wer? Wem? Wieso? Wann? Fragen Sie das Professor Alzheimer. Und ich erinnere mich auch an einen Satz, der mich persönlich betrifft und der mich nach einem meiner Umzüge von einer Partei in eine andere noch wochenlang verfolgte. Dimassi, den ich eben verlassen hatte, kam in der Wandelhalle auf mich zu, legte mir den Arm um die Schultern und sagte mit seiner rauen Bassstimme: »Tu quoque, Slucca!« Alle hörten und wiederholten daraufhin bei jeder möglichen und unmöglichen Gelegenheit dieses lahme geflügelte Wort, wie es eben in unseren Kreisen oder in der zweiten Grundschulklasse üblich ist. Es wurde fast ein Spitzname. »Na, wie geht's dir denn so, Tuquoque?« oder »Komm, Tuquoque, ich lade dich zu einem Kaffee ein.«
    Dann, wie der Lauf der Dinge ist, starb die Sache von selbst, der Witz hatte ausgedient.
    Nur dieses eine Mal war es mir beschieden, nicht ganz so »unsichtbar« zu sein, wie Onorevole Migliarini das nennt, der mir dauernd diesen meinen Mangel vorwirft. »Slucca, du musst dich mehr zur Schau stellen!« Als wäre das leicht, da er doch immer vor mir steht und aller Augen auf sich zieht. Er ist ein Freund, ein alter Schulkamerad aus dem Gymnasium (deswegen redet er mich immer noch mit Nachnamen an), und ein wahrer Fuchs von Politiker, dem ich, wohlgemerkt, alles verdanke. Er war vor ein paar Jahren vier Monate lang in einer Übergangsregierung Minister, zweimal Staatssekretär und in sechs oder sieben Ausschüssen aller Art stellvertretender Vorsitzender. Ich bin ihm stets treu in all seinen »völlig klaren« Standpunkten gefolgt, habe immer für das gestimmt, wofür er entschieden hat, habe im Parlament (wenige Male) immer das Wort seinen Instruktionen entsprechend ergriffen. Wenn er beim Hineingehen oder Herauskommen vor dem Montecitorio interviewt wird, bin ich fast jedes Mal an seiner Seite. Aber es endet meist so, dass die Fernsehkameras von mir höchstens ein Stück Schulter, ein Ohr, den halben Nacken erfassen. Es lebe die Fähigkeit, sich zur Schau zu stellen.
    Eigentlich war ich damit aber ganz zufrieden, doch letztes Jahr setzte er es sich in den Kopf, mich sozusagen zum Einweiher der Partei zu ernennen. Das will heißen, dass man, wenn in einer kleinen Gemeinde in Apulien oder auf Sardinien ein seit acht Jahren geschlossenes Schwimmbad wieder in Betrieb genommen wird, mir die Schere in die Hand drücken wird. »Geh du, Slucca, lass dich ein bisschen sehen im Territorium.« Oder eine (vor sechs Jahren) eingestürzte Brücke über ein Flüsschen im Piemont ist wieder begehbar. »Präsenz, Präsenz, die Partei muss Präsenz beweisen! Schicken wir Slucca.« Und so weiter und so weiter, immer mit meiner Schere — von einer Ausstellung des Kinderwagens im Wandel der Zeiten zu einem Straßenfest des gemischten Salats. Daher bin ich ständig auf Reisen, und das
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