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Der unsichtbare Zweite

Der unsichtbare Zweite

Titel: Der unsichtbare Zweite
Autoren: Carlo Fruttero
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getan hätte. Ich wusste ja nicht, wie es passiert war, gefährliches Überholmanöver, Straßenglätte, Ohnmacht am Steuer, was weiß ich; und ich habe auch nicht an die eventuellen Opfer gedacht. Für mich blieb, gleich wessen Schuld es war, das Hauptmerkmal an diesem Unfall, dass ich seinetwegen den Flug Rom-Pescara verpasst hatte und dass das Image meiner Wenigkeit, der Partei, des Parlaments, mal wieder zusammengekracht war.
    Kurz nach 21 Uhr betrat ich dann das Restaurant, in dem Migliarini Stammgast ist, denn ich fand, ich könnte die Sache genauso gut gleich hinter mich bringen. Er saß an seinem gewohnten Seitentisch vor einem mit Artischocken garnierten Schnitzel und kaute weiter, ohne mich anzusehen, während ich ihm den Hergang schilderte. Er forderte mich nicht auf, Platz zu nehmen, aber ich setzte mich trotzdem schräg an seinen Tisch. »Es hat geregnet, und dann war da dieser Unfall«, erklärte ich noch einmal. Er hat sein Fleisch geschnitten und gekaut. »Auch wenn ich versucht hätte, mit dem Auto hinzufahren, hätte ich es nicht mehr geschafft, es war zu spät.« Migliarini schwieg und spießte Artischockenviertel auf. Als der Teller leergeputzt war, seufzte er tief und sagte: »Schade, es war eine hochinteressante kulturelle Intitiative, wir hätten wirklich dabei sein müssen.« Kühl. Nachdenklich, aber sehr kühl. In Wirklichkeit stinkwütend, über alle Maßen wütend. »Ganz sicher war auch der Bischof da, und in diesem Augenblick, das weißt du, Slucca, ist der Standpunkt der Bischöfe ...«
    In dem Augenblick stürmte ein TV-Kommando ins Lokal. Vorneweg eine regennasse junge Frau, dahinter drei Kameraleute und Assistenten oder ähnliches. Migliarini erhob sich halb, schwenkte den Arm zum Gruß, aber sie beachteten ihn gar nicht, sie suchten offenbar jemand anderen, vielleicht einen Kollegen.
    »Hei, Lauretta«, rief Migliarini.
    Diese Lauretta drehte sich um und preschte mit drei mächtigen Schritten an unseren Tisch. Migliarini korrigierte schnell den Sitz seiner Krawatte.
    »Falls du wegen der billigen Andeutungen von Percivalle über das gemeinsame Communique von heute Vormittag hier bist ...«
    »Nein, nein, Schätzchen, ich will nicht zu dir, ich suche einen deiner Leute, oder jedenfalls einen, der noch vor zwei oder drei Spaltungen zu dir gehört hat, vielleicht kannst du mir ja sagen, wo er aufzustöbern ist.«
    »Um wen geht es denn?«
    »Slucca. Aldo Slucca.«
    Mit der Gebärde eines unfehlbaren Taschenspielers zeigte Migliarini auf mich. »Da sitzt er, und er gehört, wohlgemerkt, immer noch zu mir.«
    »Verzeihen Sie, Onorevole, von hinten habe ich Sie gar nicht erkannt«, sagt diese keuchende Lauretta, die mich aus keiner Perspektive erkannt hätte. Mich, Slucca Halbernacken. »Es ist wegen dieses Flugs Rom-Pescara.«
    »Davon haben wir gerade gesprochen«, bestätigt Migliarini, der sich nie überrumpeln lässt.
    »Ach ja, eben«, meint Lauretta ehrerbietig. »Wir hätten gern ganz frisch Ihre Eindrücke, nach dem, was passiert ist, Onorevole.«
    »Wieso? Was ist denn passiert?« Migliarini guckt mit feinem Lächeln ins Leere. Auch er weiß nicht, was passiert ist, aber ihm hegt daran, immer so auszusehen, als wäre er längst über alles informiert.
    »Das wissen Sie nicht?« fragt Lauretta, und ihre Stimme erstirbt zu einem Hauch. »Das Flugzeug ist in ein furchtbares Gewitter gekommen und über einem Berg abgestürzt.«
    Ich brauche weniger als eine Tausendstelsekunde, um zu begreifen, aber Migliarini hat schon die pole Position übernommen.
    »Und du hättest da mitfliegen sollen«, sagt er geistesgegenwärtig, hochdramatisch. »Slucca, denk doch!«
    Inzwischen hat sich das Kommando um unseren Tisch herum aufgestellt, sie hantieren an der Fernsehkamera herum. Mir zittern die Beine. »Aber hat man es gefunden?« frage ich. »Gibt es Überlebende?«
    »Die Absturzstelle ist bekannt. Die ersten Rettungsmannschaften sind unterwegs, aber es gibt wenig Hoffnung, die Maschine ist beim Aufprall explodiert.«
    »Dann sind alle tot«, erklärt Migliarini feierlich. »Wie viele waren es?«
    »Mit dem Bordpersonal achtzehn Personen.«
    »Und die neunzehnte sitzt hier«, verkündet Migliarini gerührt und drückt mir das Handgelenk.
    Innerlich frohlockt er, er sieht das nochmalige Kippen des Image vor sich, und das bedeutet genau das Gegenteil des gekippten Image. Beim nochmaligen Kippen regnet es Blumen, Bonbons, Handküsse von Seiten federgeschmückter schöner Brasilianerinnen, wie
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