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Der unsichtbare Zweite

Der unsichtbare Zweite

Titel: Der unsichtbare Zweite
Autoren: Carlo Fruttero
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Vergewaltiger vorbeifahren, einen Alfa der Verkehrspolizei, einen Abschleppwagen, einen zweiten Alfa, einen Krankenwagen. Jetzt raus aus dem Auto, in den Regen hinaus, den Ausweis schwenken, massive Unterstützung verlangen, sich an den Trupp anhängen, das müsste ich nach Meinung Migliarinis jetzt tun. Unverfrorenheit, Slucca, in gewissen Situationen muss man Unverfrorenheit an den Tag legen! Ich habe nichts zum An-den-Tag-Legen, kurble das Fenster wieder rauf und sage mir: Gott sei Dank, es ist ein Unfall. Ja, das sage ich: Gott sei Dank. Und ich schäme mich dessen nicht. Mein Standpunkt in Bezug auf Unfälle ist, wie ich dann später Migliarini vergeblich zu erklären versuchte, völlig klar, das sage ich hier, und ich bestehe darauf.
    Wenn ich auf irgendeiner Straße in einem Stau stecke, bedeutet ein Unfall für mich ungeheure Erleichterung. Ein gewöhnlicher Megastau bringt dich einfach zur Verzweiflung, er kann endlos dauern, hat wer weiß wie viele Kilometer vor dir angefangen, setzt sich wer weiß wie viele Kilometer hinter dir fort, du weißt nicht, wie du da je wieder herauskommst, du weißt nicht, warum er sich gebildet hat, alles ist ohne Sinn und Verstand, ausweglos, du bist im Gesetz der großen Zahl versandet, zwanzigtausend deiner Todfeinde haben sich gleichzeitig mit dir auf die Straße begeben, es ist aussichtslos, es ist hoffnungslos.
    Bei Engpässen durch Baustellen geht es mir schon ein bisschen besser, die Wut ist vergleichbar, das wird eine halbe Stunde dauern, vielleicht eine ganze, aber du weißt, dass der Trichter sich schließlich wieder öffnen wird, dass alles wieder zu fließen beginnt.
    Jedoch das Ideale bleibt der Unfall: Er rechtfertigt nachträglich die Qual des Steckenbleibens, versöhnt dich mit der Welt. Ah, Gott sei Dank, es war ein Unfall, das war also der Grund. Ich habe nicht einfach nur so gelitten, grundlos, völlig ohne Sinn. Und so schlimm es auch sein mag, da vorn sind welche, die sich mit allen Kräften bemühen, umgestürzte Laster, ausgebrannte Autos, Tote, Verletzte aus dem Weg zu räumen. Es wird eine Weile dauern, aber schließlich wird man dich durchwinken. Gott sei Dank.
    Und so ist es dann in der Tat gewesen, ich bin durch das Chaos von verbogenem Blech, abgesprungenen Rädern, Bahrenträgern und Helfern in ihren im Regen glänzenden orangenen Westen, patschnassen Polizisten, die den Verkehr mit großen Operngesten dirigierten, gefahren. Ich habe im Platzregen hinter den beschlagenen Scheiben wenig oder so gut wie nichts gesehen, und es schien mir nicht angebracht, anzuhalten, um nähere Informationen einzuholen, die sieht man ja in der Tagesschau, wenn sie einen interessieren. Und schließlich hatte ich ja meinen Flug, auch wenn inzwischen, um 19.09, die Aussicht, ihn noch zu erwischen, nicht mehr sehr groß war. Aber es blieb mir doch noch die Hoffnung, die den reisenden Italiener nie ganz verlässt, nämlich dass der Flug seinerseits Verspätung haben würde, natürlich nicht meinetwegen, aber aus anderen Gründen, wegen einer völlig anderen Verkettung von Hindernissen und Fehlleitungen. Fünzigmal von hundert Malen passiert das, aber dieses eine Mal nicht.
    Ich habe um 19.31 geparkt, bin um 19.37 zum Check-in-Schalter gestürzt, und die junge Frau hat den Kopf geschüttelt, einen Blick auf den Bildschirm geworfen, nichts zu machen, das Flugzeug ist soeben gestartet, leb wohl Mystische Sinnlichkeit, dort oben bei den Novizen wird das Image vom Tablett krachen, kladderadonis! Ich habe versucht, sie anzurufen, aber zwischen uns lagen Berge und Niederschläge gewittriger Natur, und außerdem ist mein Handy ein von Migliarini abgelegtes altes Modell. Was konnte ich tun? Nach Pescara ging an dem Abend kein Zug mehr. Nach Bologna fliegen, nach Bari, einen Leihwagen nehmen, zum Rendezvous mit D'Annunzio rasen, eintreffen, wenn das Klostertor bereits verriegelt ist. Klopf, klopfl Wer ist da? Slucca, Ehrwürdige Mutter, Onorevole Aldo Slucca, der zu dieser sinnlichen Mystik gekommen ist. Ach so, ja, treten Sie doch ein, Onorevole, damit Sie wenigstens noch einen Blick auf die Mädchen werfen können.
    Zu kompliziert, das lasse ich lieber. Und so bin ich im stockenden, ganz und gar nicht fließenden Verkehr nach Rom zurückgefahren, habe den Unfallort wiedergesehen, die Polizei, den Kranwagen (die Krankenwagen waren schon weg), die orangenen Westen der Leute vom Rettungsdienst. Ich leugne nicht, ihn verflucht zu haben, diesen Unfall, wie es jeder an meiner Stelle
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