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Der unsichtbare Zweite

Der unsichtbare Zweite

Titel: Der unsichtbare Zweite
Autoren: Carlo Fruttero
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ich schon seit ein paar Jährchen einen ebenfalls dunkelblauen Croma TD, den ich höchstpersönlich steuere; mit dem Ergebnis, dass die Verkehrspolizisten des Ortes, wo man mich erwartet, mich in schöner Regelmäßigkeit für meinen Chauffeur halten, den Kopf zum Fenster hereinstecken und fragen, wo denn der Onorevole sei. So bin ich vorgestern zum Flughafen Leonardo da Vinci losgefahren, ich sollte das Flugzeug nach Pescara um 19.20 Uhr nehmen. Eine schlechte Tageszeit, stockender, selten fließender Verkehr, was heißt, dass du einen Kilometer lang dreißig in der Stunde fährst, dann drei Minuten stehst, mit zwanzig in der Stunde weiterfährst, dann alles wieder von vorn. Selbstverständlich hatte ich das vorausgesehen und war frühzeitig aufgebrochen, auch im Hinblick auf den Wetterdienst, der gewittrige Niederschläge über Mittelitalien einschließlich Rom angekündigt hatte.
    Und kaum bin ich aus Rom heraus, fängt es auch schon an zu regnen, und der Verkehr geht von stockend in zentimeterweise und schließlich ins Katatonische über. Ich klebe auf der Überholspur (für Regenwürmer, ja!) und sehe durch die Windschutzscheibe den Renault, Farbe Champagne, vor mir, an dem ein Wasserfall herunterläuft wie an meinem Wagen. Rechts von mir andere Regenwürmer mit eingeschalteten Scheinwerfern, gedrosseltem Motor, regungslos. Unser Standpunkt ist völlig klar: wir stehen. Eine Weile warte ich geduldig. Wenn man in der Politik eines lernt, dann Denkpausen zu machen. Zunächst sehe ich nicht auf die Uhr, dann tue ich es doch. Wir stehen seit zehn Minuten. Ich male mir aus, dass ich meinen Flug verpasse, dass ich Sinnliche Mystik und mystische Sinnlichkeit verpasse, einen Rezitationsabend von D'Annunzio-Gedichten, veranstaltet von den Novizen eines Klosters in einem Bergdörfchen in den Abruzzen. Sie müssen mich in Pescara abholen und dort hinaufbringen, die Novizen fangen pünktlich um 21 Uhr an. Soll ich Bescheid geben, dass ich vielleicht nicht komme? Aber das steht noch nicht fest, dramatisieren wir nichts. Ich gestatte mir noch eine Denkpause, und nach weiteren zehn Minuten setzt die Schlange sich in Bewegung. Wir schaffen nicht ganz hundert Meter und erstarren wieder zu Marmor. Ich sehe die Statue auf der Spur rechts neben mir ins Handy sprechen, nehme meines zur Hand und rufe Migliarini an. Nichts, sein Handy gibt keinen Ton von sich, und übrigens, was könnte er mir schon sagen? Dass ich auf einem Rastplatz halten soll, wohin er mir einen Hubschrauber schickt oder zwei Motorradfahrer, die mir die Fahrbahn freifegen? Das sind Phantasien, Slucca, politisch morbide Träumereien!
    Es ist 18.20 Uhr, eine Stunde noch bis zum Abflug, aber wenn es so weitergeht, stürzt mein Image wieder einmal ab, das ist sicher. Autoschlangen sind etwas für Spielernaturen, und ich habe Glücksspielen noch nie etwas abgewinnen können. Die Kolonne rechts von mir setzt sich in Bewegung, und sofort raufe ich mir die Haare (die wenigen), klar, auf die Spur dort hätte ich setzen sollen, ich habe alles falsch gemacht, ich bin ein beschissener Verlierer; dann setzt sich meine in Bewegung, und meine Stimmung wechselt von Verzweiflung zu Triumph, was für eine geniale Intuition, was für eine vollkommene strategische Wahl, Slucca, du bist ein Sieger! Und dann von neuem ein Verlierer und wieder ein Sieger in diesem verfluchten Regengepladder, Rot, Schwarz, Hochstimmung, Tiefstimmung, bis meine Nerven im Eimer sind, ganz zu schweigen von der Kupplung meines Croma TD, Baujahr '92.
    Dann ist mir, als hörte ich das Jaulen einer näher kommenden Sirene, ich kurble das Fenster herunter, und es ist wirklich eine, nein, zwei Sirenen, drei, vier, die sich zwischen den beiden festklebenden Kolonnen eine Schneise zu bahnen suchen. Notfall! Notfall! Kommen sie, um mich zu befreien? Ach, du bist kein Odysseus, Slucca, die Sirenen singen nicht für dich. Ich weiche, soweit es geht, nach links aus (»Mehr nach links, Slucca, wir müssen uns mehr links positionieren«, drängte Migliarini damals, als wir rechts im Zentrum oder vielleicht im Zentrum der Rechten standen), und genau das versuchen mühsam auch alle anderen auf meiner Spur, während die Autos der anderen Kolonne sich nach rechts hin positionieren (»Mehr nach rechts, Slucca, mehr nach rechts«, damals, als wir links im Zentrum oder im Zentrum der Linken standen, ach, heiliger Gott des Vergessens!).
    Ganz langsam bildet sich die Schneise, und ich sehe diese ohrenbetäubenden, drohenden
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