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Der unsichtbare Zweite

Der unsichtbare Zweite

Titel: Der unsichtbare Zweite
Autoren: Carlo Fruttero
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beim Karneval von Rio. »Wir sprechen hier mit Onorevole Aldo Slucca«, teilt Lauretta nun ernst den Fernsehzuschauern mit, »der ebenfalls einen Flug gebucht hatte und auf der Passagierliste stand, aber im letzten Augenblick nicht in das Unglücksflugzeug gestiegen ist.«
    Sie senkt ihre Stimme noch mehr, so dass sie jetzt mindestens zwei Grabkränze und vier Kerzen enthält. »Onorevole, was ist das für ein Gefühl, gewissermaßen um ein Haar der Katastrophe entronnen zu sein?« Sie hält mir das Mikrophon unter die Nase.
    »Es ist ein Wunder«, flüstert mir mein Banknachbar Migliarini ein und rückt auf Schulterschluss zu mir auf. Sich als jemand, dem ein Wunder geschehen ist, zur Schau stellen zu können, davon hat nicht einmal er bis jetzt geträumt. Wer weiß, wie neidisch er auf Slucca Knüller ist. Unwillkürlich muss ich lächeln, und er bemerkt es.
    »Er steht noch unter Schock«, erklärt er.
    Die junge Frau bedeutet ihm, von mir wegzurücken, sie wollen den einzigen Überlebenden allein im Bild haben.
    »Sie stehen noch unter Schock, Onorevole«, hebt Lauretta wieder an, Stimme einer Tochter am Sterbebett des geliebten Papachens. »Und wir verstehen natürlich, dass dieses tragische Ereignis für jemand, der sich gewissermaßen als mit betroffen betrachten muss, gefühlsmäßig nicht sofort verarbeitet werden kann ... Aber können Sie uns sagen, wie es kam, dass Sie nicht in dieses Flugzeug gestiegen sind?«
    Das ist der eigentliche Knüller. Nicht um mich geht es, sondern um das Schicksal, um das auf frischer Tat ertappte Schicksal. Ich gestatte mir eine kurze Denkpause und stottere dann: »Naja, es war ein Zufall, ich bin zu spät am Flughafen angekommen und ...«
    »Hatten Sie denn keine Vorahnung?« drängt die New-Age-Knüllerlady. »Ich meine, irgendein unbewusstes Warnzeichen, das Sie gewissermaßen aufgehalten, das gewissermaßen Ihre Verspätung gefördert hat?«
    »Eigentlich nicht, ich glaube nicht. Aufgehalten hat mich ein unmöglicher Stau auf der Zubringerstraße, danach noch einer auf der Autobahn Rom-Civitavecchia, weil da ein Unfall den Verkehr völlig blockierte. Und daher ...«
    Diese rasenden Fernsehreporterinnen sind immer etwas außer Puste, aber dieser hier bleibt die Luft jetzt definitiv weg. »Ein Unfall?« haucht sie bei Atemstillstand.
    »Ja, ich weiß nicht genau, man konnte fast nichts sehen. Ein Auffahrunfall, nehme ich an.«
    »Um wie viel Uhr ist das passiert, können Sie sich daran erinnern?« fragt sie mit einem gewissermaßen raubkatzenhaften Glimmen in den Augen.
    »Ich weiß nicht, zwischen sechs und sieben, glaube ich.«
    »Und dieser Unfall war der Grund, dass Sie Ihren Flug verpasst haben, Onorevole?«
    »Ja, genau. Gott sei Dank war da dieser Unfall.«
    Stille vor dem Sprung. Migliarinis Schulter rückt deutlich von mir ab. »Sich distanzieren, Slucca, sich distanzieren.«
    »Gott sei Dank?« faucht die Tigerin.
    »Naja, gewissermaßen, denn sonst ...«
    Die Tigerin schlägt ihre Reißzähne in meine Gurgel. »Wir haben gerade eben über diesen Unfall berichtet. Wir kommen direkt von dort. Wissen Sie denn, Onorevole, dass bei diesem Unfall, der Ihnen gewissermaßen das Leben gerettet hat, eine Großmutter aus Civitavecchia und ihr elfjähriges Enkeltöchterchen ums Leben gekommen sind?«
    »Oh, mein Gott ...«, sage ich, ehrlich erschüttert. »Wenn man so daran vorbeifährt, wenn die Sicht so schlecht ist ...«
    »Zwei Leben gegen Ihres, Onorevole. Sagen Sie immer noch Gott sei Dank?«
    Ich habe mich bei der da in der Art geirrt: Die gehört nicht zu den Raubkatzen, die gehört zu den Reptilien, und jetzt will sie mich erwürgen.
    »Nein, nein, um Gottes willen«, protestiere ich halb erstickt, »ich habe Gott sei Dank gesagt, weil ich meinte, dass ...«
    Ich spüre Migliarinis Schulter, die voller Autorität wieder mit meiner Kontakt aufnimmt.
    »Laura, Onorevole Slucca steht deutlich unter Schock. Dieses Interview kann nicht gesendet werden, das ist Verletzung der Privatsphäre.«
    Die Schlange hat jetzt das Grinsen einer Hyäne. »Gott sei Dank, Gott sei Dank«, zischt sie.
    »Laura, was du da treibst, ist entschieden eine Instrumentalisierung von Worten, die in einer äußerst delikaten mentalen und psychologischen Situation ausgesprochen wurden, und du hast kein Recht ...«
    Sie schlägt mit einer Hand auf die Fernsehkamera.
    »Und das Recht auf Information? Ich mache nur meine Arbeit, wenn du nichts dagegen hast.«
    »Du verfälschst und verzerrst eine
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