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Der unsichtbare Zweite

Der unsichtbare Zweite

Titel: Der unsichtbare Zweite
Autoren: Carlo Fruttero
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bedeutet in Italien keine geringe Anstrengung. Liegengebliebene oder entgleiste Züge, Streiks, verpasste Anschlüsse, das Übliche. Mindestens ein halbes dutzendmal ist es mir passiert, dass ich zu spät zum Banddurchschneiden gekommen bin, und der Tag der Sonnenblume oder der traditionelle Palio der Eidechsen oder weiß der Kuckuck, was es war, musste ohne mich anfangen. Und unser Image ist wieder einmal in Scherben gegangen, meint Migliarini.
    Ich habe es so oft nennen hören, dieses Image, dass ich es mir inzwischen als eine schwankende Flasche auf einem Tablett vorstelle, das ein angetrunkener Kellner auf einer Hand durch ein überfülltes Lokal balanciert. Vorsicht, gleich kippt das Ding. Und in der Tat, es klirrt, schwankt, neigt sich und - krach, zerbirst es auf dem Fußboden in tausend Stücke. Sokratischer Einwand meinerseits: »Aber wieso soll ich plötzlich ein Image haben, wenn du doch sagst, ich sei praktisch unsichtbar?« Barsche Erwiderung Migliarinis: »Es handelt sich nicht um dich, Slucca, es handelt sich um die Partei - und letzten Endes um das ganze Parlament. Du wirst doch einsehen: ein Parlamentarier, der eintrifft, wenn die Eidechsen schon wieder in ihre Schachteln gesteckt worden sind, blamiert den ganzen Politikerstand, der Gap wird breiter.«
    Der Gap, das ist auch so eine fixe Idee. Den Gap stelle ich mir vor wie in einem Zeichentrickfilm: Die Wände einer schmalen Felskluft rücken langsam auseinander, und ich, Slucca Duck, stehe da oben, ein Bein hüben, ein Bein drüben, und versuche einen Spagat, aber es hilft nichts, der Gap wird breiter, klafft unter mir, auf der einen Seite die politische Klasse, auf der anderen die bürgerliche Gesellschaft, die immer weiter davon rutscht, immer gleichgültiger wird, ein wahrer Jammer.
    Schüchterne Rechtfertigung meinerseits: »Aber hör doch, ein paar Kilometer vor unserem Zug hatte ein Güterwagen ein Rad verloren, wir haben drei Stunden auf offener Strecke gestanden, was hätte ich denn tun sollen?« Niederschmetternde Erwiderung Migliarinis: »Du hättest dir Gehör verschaffen müssen, deine Autorität geltend machen müssen, massive Unterstützung auf höchster Ebene anfordern müssen. Du warst schließlich nicht auf einer Vergnügungsreise, Slucca, du warst ein offizieller Vertreter des Volkes in voller Ausübung seiner Funktion!« Unausgesprochene Entgegnung meinerseits: »Aha, ich hätte mir wohl von den Karabinieri ein Fahrrad leihen und auf der Suche nach einem Taxi durch die Kornblumen kurven sollen?«
    Die Leute meinen, dass wir Abgeordneten nicht nur ein maßlos hohes Gehalt einstecken, dazu noch Sitzungsgelder, Spesen, Friseurrabatte, märchenhafte Renten, sondern auch und vor allem sensationelle Privilegien genießen, um großspurig über alle Kümmernisse hinwegschreiten zu können, die dem normalen Staatsbürger ständig zusetzen. Wir brauchen nicht Schlange zu stehen, keine zermürbenden Wartereien am Flughafen zu erdulden, für uns gelten keine Verbotstafeln, vor uns werden keine Türen zugeknallt, und wir werden nicht in Krankenhäuser eingeliefert, in denen sie die Sauerstoffflasche nicht finden, während du verzweifelt nach Atem ringst. Du ziehst einfach deinen Parlamentarierausweis aus der Tasche, und schon wird der rote Teppich vor dir ausgerollt, du wirst an dein Ziel eskortiert, bitte schön, Onorevole, nehmen Sie doch in unserem nach Maiglöckchen duftenden Sonderabteil Platz, dürfen wir Ihnen einen Kamillentee servieren oder lieber einen norwegischen Wodka?
    Ach, wäre es doch so! Gleich vorweg gesagt: Ich habe weder einen dunkelblauen Dienstwagen noch einen Chauffeur, geschweige denn eine Eskorte. In längst vergangenen Zeiten, als die Situation im Land noch etwas brenzliger war als normalerweise, habe ich Migliarini gegenüber diesbezüglich einmal etwas anzudeuten versucht. Ich habe gewiss nichts Großartiges verlangt, mir schien nur, dass ich einen gewissen Schutz verdiente. »Mach dir keine Sorgen, Slucca, du riskierst nichts, auf dich hat's doch niemand abgesehen, wer sollte denn ausgerechnet dich entführen, da lachen ja die Hühner«, sagte Migliarini fröhlich, während er in seinen kugelsicheren Schlitten stieg. Das war selbstverständlich richtig, Mafiosi und Terroristen hatten noch nie ein Interesse an mir und meinem Fiat Tipo, den ich nach Migliarinis Rat in Dunkelblau gewählt habe (»Das sieht mehr nach Regierung aus, verstehst du, Slucca?«), obwohl mir Metallic-Rot besser gefallen hätte.
    Jetzt habe
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