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Der Unheimliche Weg

Der Unheimliche Weg

Titel: Der Unheimliche Weg
Autoren: Agatha Christie
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verurteilen Sie alles, dann werden Sie darüber nachdenken, immer wieder und wieder, und am Ende wird es Ihnen ganz natürlich erscheinen; als ob es die vernünftigste Sache von der Welt wäre.«
    »Nie! Niemals!«, rief Sylvia verzweifelt.
    »Aha!«, sagte Monsieur Aristides. »Aus Ihnen spricht Leidenschaft und Auflehnung, das Göttergeschenk, das die Natur den rothaarigen Frauen verliehen hat. Meine zweite Frau«, fuhr er nachdenklich fort, »hatte auch rotes Haar. Sie war eine Schönheit, und sie liebte mich abgöttisch. Ist das nicht merkwürdig? Ich habe von jeher die rothaarigen Frauen bewundert. Sie haben herrliches Haar, Madame. Und Sie haben noch andere Vorzüge. Sie besitzen Geist und Mut und eine eigene Meinung.« Er seufzte. »Ach, heutzutage interessieren mich die Frauen nur noch wenig. Ich habe hier ein paar junge Mädchen zur Unterhaltung, aber ich vermisse die geistige Gemeinschaft. Glauben Sie mir, Madame, Ihre Gegenwart hat direkt belebend auf mich gewirkt.«
    »Wenn ich nun all das, was Sie soeben gesagt haben, meinem Mann berichte?«
    Aristides lächelte nachsichtig.
    »Wenn Sie es täten? Aber wollen Sie es wirklich?«
    »Ich weiß nicht – ich weiß es wirklich nicht.«
    »Oh, Sie sind klug und weise«, sagte Monsieur Aristides, »eine Frau muss manches zu verschweigen wissen. Aber Sie sind jetzt müde und verwirrt. Wenn ich, wie es von Zeit zu Zeit geschieht, zu einem Besuch hierherkomme, werde ich Sie rufen lassen, und wir werden uns dann über viele Dinge unterhalten.«
    »Ach, lassen Sie mich fort« – und Sylvia streckte ihre Hände flehend nach ihm aus, »lassen Sie mich bitte fort. Nehmen Sie mich mit. Bitte, bitte!«
    Er schüttelte sanft den Kopf. Er sah nachsichtig, aber auch ein klein wenig verächtlich aus.
    »Nun sprechen Sie auf einmal wie ein kleines Kind«, sagte er vorwurfsvoll, »wie könnte ich Sie gehen lassen? Wie könnte ich verantworten, dass Sie Ihren Mann im Stich lassen und draußen meine Geschäftsgeheimnisse ausplaudern?«
    »Würden Sie mir denn wirklich nicht glauben, wenn ich einen Eid ablegte, dass ich zu niemandem ein Wort sagen würde?«
    »Nein, das würde ich Ihnen wirklich nicht glauben«, erwiderte Monsieur Aristides, »das wäre sehr töricht von mir.«
    »Ich will aber nicht hier bleiben in diesem Kerker. Ich möchte weg.«
    »Sie haben doch Ihren Mann hier. Sie kamen doch seinetwillen aus freien Stücken hierher.«
    »Aber ich wusste nicht, wie es hier sein würde.«
    »Gewiss«, entgegnete Monsieur Aristides, »Sie hatten keine Ahnung. Aber ich möchte Ihnen sagen, dass diese merkwürdige Welt hier, die Sie betreten haben, eine sehr viel angenehmere Welt ist als das Leben hinter dem Eisernen Vorhang. Hier wird Ihnen alles geboten, was Sie brauchen. Luxus, ein herrliches Klima, Zerstreuungen aller Art…«
    Er stand auf und klopfte ihr sanft auf die Schulter.
    »Sie werden sich einleben«, sagte er zuversichtlich, »ja, der kleine Vogel mit dem roten Köpfchen wird sich eingewöhnen. In einem, spätestens in zwei Jahren werden Sie sehr glücklich sein. Wenn auch«, setzte er nachdenklich hinzu, »vielleicht weniger interessant.«

19
     
    I n der folgenden Nacht wachte Sylvia plötzlich auf. Sie stützte sich auf ihren Ellbogen und fragte: »Tom, hörst du nichts?«
    »Doch. Es sind niedrig fliegende Flugzeuge. Das bedeutet nichts. Sie kommen immer von Zeit zu Zeit.«
    »Ich wüsste gern – «, aber mitten im Satz brach sie ab und dachte über ihr Gespräch mit Aristides nach. Offenbar hatte der Alte eine Schwäche für sie. Vielleicht konnte sie das ausnützen. Vielleicht konnte sie ihn doch einmal überreden, sie mit nach draußen zu nehmen. Wenn er das nächste Mal kam, wollte sie mit ihm über seine verstorbene rothaarige Frau reden. Es waren ja keine erotischen Beweggründe, die ihn leiteten. Die Leidenschaft spielte keine Rolle mehr bei ihm. Außerdem standen ihm ja seine »jungen Mädchen« zur Verfügung. Aber alte Leute schwelgen gern in Erinnerungen. Was hatte sie einmal zu Tom gesagt: »Ich werde einen Weg finden, der uns hier herausführt.« Wie sonderbar, sich vorzustellen, dass dieser Fluchtweg vielleicht über Aristides gehen würde…
     
    »Eine Nachricht«, sagte Leblanc, »endlich wieder eine Nachricht.« Soeben war sein Diener eingetreten und hatte ihm ein zusammengefaltetes Papier übergeben.
    »Da ist ein Bericht von einem unserer Suchpiloten. Er hat ein abgelegenes Territorium des Hohen Adas abgesucht. Als er über eine bergige
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