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Der Unheimliche Weg

Der Unheimliche Weg

Titel: Der Unheimliche Weg
Autoren: Agatha Christie
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hier war ein Mensch, der seine Mitmenschen lediglich als Rohmaterial zu Versuchszwecken betrachtete.
    »Glauben Sie eigentlich an Gott?«, fragte sie schließlich.
    Er schien schockiert. »Selbstverständlich glaube ich an Gott. Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass ich ein frommer Mann bin. Gott hat mich mit großen Machtmitteln ausgestattet: Mit Geld und mit guten Ideen, es optimal anzulegen.«
    »Lesen Sie in der Bibel?«, fragte Sylvia.
    »Gewiss, Madame.«
    »Erinnern Sie sich, was Moses und Aaron zum Pharao sagten? ›Lass mein Volk ziehen!‹«
    Er lächelte. »So, und ich soll Pharao spielen? Und Sie sind Moses und Aaron in einer Person? Das wollen Sie doch sagen, Madame? Dass ich die Leute hier alle gehen lassen soll – alle – oder vielleicht nur einen, wie?«
    »Ich würde lieber sagen – alle!«
    »Aber Sie wissen ja selbst, Madame, dass ein solches Ansinnen Zeitverschwendung wäre. Wollen Sie stattdessen nicht lieber nur für Ihren Mann bitten?«
    »Er ist jedenfalls nicht von großem Nutzen für Sie«, sagte Sylvia, »das ist Ihnen klar geworden.«
    »Sie haben Recht, Madame. Ja, ich bin sehr enttäuscht von Thomas Betterton. Ich hoffte, dass Ihre Anwesenheit seine Fähigkeiten neu beleben würde, denn er hat zweifellos große Fähigkeiten. Dafür bürgt schon der Ruf, den er in Amerika hat. Aber Ihre Ankunft hat wenig oder gar keine Wirkung gehabt. Ich spreche natürlich nicht aus eigener Erfahrung, sondern ich halte mich an die Berichte derjenigen, die Bescheid wissen. Das sind seine Kollegen, die mit ihm zusammenarbeiten.« Er zuckte die Achseln. »Seine Arbeiten sind gewissenhaft, aber mittelmäßig. Mehr nicht.«
    »Es gibt Vögel, die in der Gefangenschaft nicht singen«, sagte Sylvia, »so gibt es vielleicht auch Wissenschaftler, die unter gewissen Bedingungen keine schöpferische Arbeit leisten können. Sie müssen zugeben, dass so etwas möglich ist.«
    »Das mag sein. Ich leugne es nicht.«
    »Dann setzen Sie Thomas Betterton auf Ihre Verlustliste und lassen Sie ihn in seine frühere Welt zurückkehren.«
    »Das wird sich kaum machen lassen, Madame. Ich möchte vorläufig nicht, dass man das, was sich hier tut, in die Welt hinausposaunt. Die Konkurrenz schläft nicht.«
    »Sie können ihm einen Eid abnehmen, dass er schweigen wird. Er würde niemals auch nur ein Wort verraten.«
    »Schwören würde er – gewiss. Aber er würde sein Wort nicht halten.«
    »Sicher würde er es halten – ganz sicher!«
    »So spricht eine Frau, und Frauen kann man in diesem Punkt nicht trauen. Jedoch«, und damit lehnte er sich in seinen Diwan zurück und legte die Fingerspitzen aneinander, »wenn er eine Geisel hier zurücklassen müsste, das würde seine Zunge vielleicht binden.«
    »Was meinen Sie damit?«
    »Ich meine Sie damit, Madame… Wenn Thomas Betterton ginge und Sie als Geisel zurückblieben, wie würde Ihnen das gefallen? Würden Sie damit einverstanden sein?«
    Vor Sylvia stiegen die Bilder der Vergangenheit auf. Monsieur Aristides konnte nicht erraten, woran sie dachte. Sie sah sich am Bett im Krankenhaus neben der sterbenden Frau. Sie hörte Jessops Instruktionen und dachte an ihre mühsame Kleinarbeit, aus Sylvia Craven eine Olivia Betterton zu schaffen. Wenn jetzt wirklich eine Aussicht bestand, dass Betterton frei wurde und sie dafür als Geisel zurückblieb, war das nicht die beste Gelegenheit, ihre Mission zu erfüllen? Denn sie wusste ja, dass sie nicht als Geisel im üblichen Sinn zurückbleiben würde. Sie bedeutete nichts für Thomas Betterton. Die Frau, die er geliebt hatte, war bereits tot. Sie hob den Kopf und sah zu dem alten Mann hinüber.
    »Ich wäre damit einverstanden«, sagte sie.
    Der alte Mann lächelte. »Sie haben Mut. Madame, Sie sind zuverlässig und treu. Das sind schöne Eigenschaften. Und im Übrigen – «, er lächelte wieder, »nun, davon reden wir ein andermal.«
    Plötzlich fuhr Sylvia auf und rief: »Nein, nein! Ich könnte es wohl doch nicht ertragen! Es ist alles so unmenschlich«
    »Sie dürfen es nicht so schwer nehmen, Madame«, sagte der alte Mann sanft, beinahe zärtlich, »es hat mir Freude gemacht, mit Ihnen von meinen Wünschen und Plänen sprechen zu können. Es war für mich von Interesse zu erfahren, wie diese auf einen ganz unvorbereiteten Geist wirken – auf eine Seele wie die Ihrige, die Seele einer ausgeglichenen, gesunden und klugen Frau. Sie sind erschreckt. Sie fühlen sich abgestoßen. Aber es wird sich alles noch geben. Zuerst
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