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Der unausweichliche Tag - Roman

Der unausweichliche Tag - Roman

Titel: Der unausweichliche Tag - Roman
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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wo die Natur so … bestimmend … so … überall ist, riecht sie nach menschengemachtem Plastik. Nur hier, wo die Natur die Erde und die Luft und den Himmel erfüllt. Wo die Augen voll von ihr sind. Wo man sie im Mund schmecken kann …
    Mélodie hat das Wasser schon halb ausgetrunken, da hört sie ein neues Geräusch.
    Menschen, die im Radio reden? Eine von diesen Diskussionen, irgendwo weit weg, über Politik oder über das Leben von irgendwelchen berühmten Menschen? Eine Unterhaltung, die eigentlich nicht für ihre Ohren bestimmt ist?
    Sie hört auf zu trinken und horcht. Nein. Keine Menschen. Etwas, das plappert wie Menschen, aber doch keine Menschen … außer, sie sprechen in einer Sprache, die Mélodie noch nie gehört hat …
    Sie schaut über die Weide hinweg, bis dorthin, wo sie in einem Streifen aus nesselgrünem Unkraut mit fedrigen Blättern endet. Das Unkraut wächst in so dichten Büscheln, dass es fast unmöglich scheint, da durchzukommen. Aber Mélodie ist fest entschlossen, die Ursache dieses neuen Geräuschs zu entdecken, und so läuft sie darauf zu. Sie hat immer noch ihren Stock. Sie fängt an, das Unkraut plattzuprügeln. Sie denkt: So muss man diesen Ort behandeln, dieses Land der Cevennen. Man muss es prügeln! Aber da schlägt es zurück. Der Stock bricht. Und so beginnt Mélodie, sich mit ihren weißen Turnschuhen einen Weg durch das Unkraut frei zu trampeln und zu treten. Die Schuhe sind in Paris gekauft und nicht mehr weiß. Sie macht große Schritte. Sie merkt, dass sich der Boden unter ihren Füßen allmählich senkt. Eine der Eschen zittert zwischen ihr und der Sonne wie ein sehr dünner Vorhang, der um ihren Kopf gezogen ist.
    Jetzt ist sie unsichtbar. Weder die Lehrerin noch die anderen Kinder können sie sehen. Sie, die anderen – jeder Einzelne von ihnen –, haben das mit den alten Frauen gewusst, die unter ihren schweren Röcken Würmer ausbrüten, weiße Würmer am weißen Fleisch ihrer Bäuche, ihrer Schenkel, aber keiner ist bis hierher vorgedrungen, hat gewagt, hierherzukommen und das Unkraut zu prügeln, es niederzutrampeln und sich einen Weg zu bahnen bis …
    … zu einem kurvigen Strand mit grauen Steinen und feinem Kies. Und dort, noch hinter dem Kies, gleitet strudelnd ein schmaler Bach an großen Felsblöcken vorbei. Kein Fluss. Tut aber wie ein Fluss, spricht mit sich selber in der Sprache eines Flusses, ist aber von der Hitze zu einem Bächlein geschrumpft. Libellen flitzen über die hohen Steine. Eschenblätter fallen von den Bäumen und schwimmen auf dem Wasser.
    Mélodie läuft über den Kies bis zum Bachrand. Sie bückt sich und taucht ihre Hände ein, wäscht den Dreck ab, herrlich, wie kühl, wie kalt, wie fast eisig das Wasser ist. Was für ein aufregendes Gefühl mit einem Mal. Da steht sie nun, unsichtbar im hübschen Baumschatten, unsichtbar und geschützt, als hätte sich das dunkelgrüne Unkraut hinter ihr wieder aufgerichtet und ihr den Rückweg versperrt.
    Fast glücklich läuft sie am schmalen Strand entlang, folgt dem Bach bis zur Biegung. Und sie läuft um die Biegung und sieht, dass das Wasser völlig überraschend in einen tiefen, seegrünen Weiher fließt. Sie starrt auf den Weiher. Ein Bach, der wieder ein Fluss zu sein versucht! Also kann auch die Natur ein Gedächtnis haben – kann sie das wirklich? –, genau wie sie, Mélodie, ein Gedächtnis hat und sich an das erinnert, was eigentlich aus ihr hätte werden sollen und wo. Denn so kommt es ihr vor, es ist, als ob der Bach sich nach dem Weiher gesehnt hätte . Es war ihm peinlich, nur ein Bächlein, ein Rinnsal zu sein. Er war vielleicht sogar traurig, bedrückt, genau wie sie selbst, das »Herz war ihm schwer«, wie Maman es nennen würde. Aber jetzt, wo er mit dem großartigen, tiefen Weiher vereint ist, weiß er, dass er nach Hause gekommen ist.
    Eine ganze Weile steht Mélodie da und schaut. Dann überkommt sie plötzlich eine große Lust, ihren juckenden, sonnenverbrannten Körper im Wasser zu baden. Sie schaut sich um, halb darauf gefasst, dass die Lehrerin durch den Vorhang der jungen Bäume tritt. Aber da ist niemand.
    Schuhe. Jeans. T-Shirt. Sie zieht alles aus, bis auf eine kleinerot-weiße Unterhose, die aus dem Monoprix auf den Champs-Elysées stammt. Dann klettert sie auf den ersten der Felsblöcke, die sie vom Weiher trennen. Und nun hüpft sie geschickt von Felsblock zu Felsblock bis zu dem höchsten, der mitten im Bach steht, und ihr fällt ein, wie ihr Trainer im
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