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Der unausweichliche Tag - Roman

Der unausweichliche Tag - Roman

Titel: Der unausweichliche Tag - Roman
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Seidenkrawatte mit seiner fleischigen Hand. »Ich werde noch mal drüber nachdenken. Ich hatte wohl eher auf ein Schnäppchen gehofft.«
    »Ein Schnäppchen ?«, sagte Anthony. »Vergessen Sie bitte nicht, wir sind hier in Pimlico.«
     
    Pimlico.
    Nein, nicht direkt Pimlico. Immer noch Chelsea. Das westliche Ende der Pimlico Road, London SW 3, Anthonys Zuhause, seine Wohngegend, sein Leben seit nunmehr vierzig Jahren, der Ort, wo ihn sein Wissen, seine Schlauheit, sein Charme einmal hatten reich werden lassen. Nicht nur reich. Hier war er zum Star der Antiquitätenwelt geworden. Händler sprachen seinen Namen mit Ehrfurcht aus: Anthony Verey; der Anthony Verey. Keine wichtige Auktion, kein Privatverkauf, keine Vernissage einer Galerie hätte stattfinden können, ohne dass er eingeladen worden wäre. Er kannte sie alle: kannte ihren Platz in der Hierarchie der Händler und Besitzer, ihre Schwachstellen, ihre Misserfolge, ihre unerträglichen Triumphe. In diesem kleinen, aber opulenten Reich agierte er wie ein verwöhnter Prinz, der Invidia den Hof machte.
    Auf dem Höhepunkt seines Ruhms hatte er sich einst allein durch die Aufzählung all der Menschen, die ihn beneideten – ein Name köstlicher als der andere –, in den Schlaf zaubern können.
    Und jetzt, an diesem kalten Frühlingsmorgen, hatte er plötzlich gesehen … ja, was eigentlich? Er hatte gesehen, wie einsam alles war. Nicht nur der Mann, der einst ein Prinz, einst der Anthony Verey gewesen war. Sondern auch all die Lieblinge , all diese Wunder, die mit solcher Sorgfalt, solcher Hingabe erschaffen worden waren … diese Dinge, die schon so lange existierten, schon so vieles überdauert hatten … selbst sie hatten etwas Tragisches in ihrer Vereinzelung, ihrer Einsamkeit. Sicher, er wusste durchaus, dass dies ein sentimentaler Gedanke war. Möbel konnten nicht fühlen. Aber man konnte für sie fühlen. Man konnte ängstlich dem Tag entgegensehen, an dem man das Objekt gehen lassen, es der Ignoranz und Nachlässigkeit anderer Menschen ausliefern musste. Ganz besonders heute, in Zeiten wie diesen, da solche Objekte generell nicht mehr wertgeschätzt, sondern einer alten, längst irrelevanten Welt zugerechnet wurden. Was erwartete sie? Was wartete da?
    Anthony saß jetzt an seinem Schreibtisch auf einem harten Windsor-Stuhl, den immer noch schmalen Hintern allerdings sorgfältig auf ein grünes Seidenkissen platziert. Dieses bei Peter Jones gekaufte Kissen hatte sich seinem Hinterteil inzwischen so perfekt angepasst, dass er es nur noch selten aufzuschütteln oder abzustauben wagte. Niemand kam mehr in den Laden. Draußen der Tag war lichtlos.
    Anthony holte sein Hauptbuch mit den Einnahmen und Ausgaben aus dem Regal, setzte seine Brille auf und starrte auf die Zahlenreihen. Das Hauptbuch war alt und dick und abgegriffen, eines von sieben, die alles an von ihm dokumentierter Geschichte enthielten: jede Erwerbung, jeden Verkauf, jede Steuerzahlung, jede Ausgabe. In den Hauptbüchern 2 bis 5 standen all die atemberaubenden Zahlen. In Buch 6 begannen diePreise ebenso wie die Anzahl der Verkäufe in beängstigend steiler Kurve zu sinken. Und nun, in Hauptbuch 7 … tja, alles, was ihm zu tun blieb, war schlicht und einfach, nicht auf die untersten Zeilen zu schauen.
    Er blickte auf die Verkäufe im Monat März: ein mittelmäßiges Porträt (»Englische Schule, frühes 18. Jh. Sir Comus Delapole, Kronanwalt, und Lady Delapole. Pastell, mit Aquarelleinschüben«), ein Majolikakrug (»Oval, 17. Jh., italienisch, mit dichtem Rankenblattwerk verziert«), eine silberne George-III-Teekanne, (»Runder Korpus mit graviertem Anthemienband und Zickzackmuster«) und – das einzige Stück von wirklichem Wert – ein kleiner Regency-Mahagonitisch, von dem er sich nicht besonders gern getrennt hatte. Alle Objekte zusammen hatten ihm etwas weniger als 4 000 Pfund eingebracht; kaum genug, um die monatliche Miete und die Unterhaltskosten für den Laden zu zahlen.
    Jämmerlich .
    Mit leichtem Bedauern überlegte Anthony, ob er sich nicht doch mehr Mühe hätte geben und das elegante italienische Konsoltischchen dem Mann mit der rosa Krawatte verkaufen sollen, der am Ende gar nichts erworben und, wie ihm nicht entgangen war, schleunigst David Linleys Geschäft auf der anderen Straßenseite aufgesucht hatte. Er wusste, dass nicht nur der Preis des Tischchens, sondern auch seine eigene unverhohlene Verachtung diesen Menschen vertrieben hatte, genau wie so viele andere Kunden
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