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Der unausweichliche Tag - Roman

Der unausweichliche Tag - Roman

Titel: Der unausweichliche Tag - Roman
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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hatte danach das Gefühl, ganz woanders gewesen zu sein.
    Episoden nannte der Arzt das. Kurze Episoden des Gehirns. Und der Arzt – oder die Ärzte, denn es war nicht immer derselbe – gab ihr Tabletten, und sie nahm sie. Sie lag in ihrem Bett und schluckte Tabletten. Die legte sie sich auf die Zunge wie eine Kommunionsoblate. Sie versuchte sich vorzustellen, dass sie nun verklärt würde. Sie lag in der Cévenoler Nacht, horchte auf die Zwergohreule, auf das Atmen der Erde und versuchte, ein Bild für die Chemie in ihrem Blut zu finden. Für sie war es ein Fluss, ein marmorierter Wirbel aus Purpur, Scharlach und Weiß; die Farben trieben in Strängen, dehnten sich, wie Wolken, zu fast-erkennbaren Gestalten. Manchmal fragte sie sich, ob diese bildhaften Vorstellungen vielleicht unangebracht waren. Man hatte ihr gesagt, ihr Verstand neige dazu, »unangebrachte Ideen« zu fabrizieren. Und er konnte sich tatsächlich furchtbare Dinge vorstellen. Er konnte sich, zum Beispiel, Folter vorstellen. Er konnte ihre Feinde, an den Füßen mit Draht zusammengebunden, verkehrt herum in den nicht mehr benutzten alten Brunnen von La Callune hängen sehen. Dieser Draht schnitt ihnen ins Fleisch. Blut tropfte aus ihren Augen. Das Wasser in dem Brunnen stieg und stieg …
    » Feinde , Audrun? Du hast doch keine Feinde«, sagten die Leute von La Callune.
    Aber sie hatte Feinde. Ihre engste Freundin, Marianne Viala, kannte ihre Namen. Die Tatsache, dass einer dieser Feinde längst auf dem Friedhof begraben lag, befreite seine verhasste Gestalt nicht von dem Etikett Feind. Oft schien es Audrun, dass die Toten, wenn sie ihre feste Form verloren, sehr beweglich wurden und nicht nur in die eigenen Träume, sondern sogar in die Luft, die man atmete, einsickern konnten. Man konnte sie schmecken und riechen. Manchmal konnte man ihre widerliche Hitze spüren.
    Audrun lief weiter. Ihre Augen waren immer noch scharf, sie ließen nicht nach, außer wenn eine Episode heraufzog und die Gegenstände und Gesichter sich zu dehnen und zu verziehenbegannen. Heute konnte sie Vorboten des Frühlings ausmachen, klar und deutlich und hell: fast durchsichtige Blättchen an den Kastanien, Hundszahnlilien am Fuß der Baumstämme, Kätzchen an einem Haselnussstrauch. Auch ihre Ohren hörten noch gut. Sie konnte den Ruf des Fitislaubsängers erkennen, sich vom Quietschen ihrer Gummistiefel gestört fühlen. Und jetzt blieb sie mitten im Wald stehen und blickte auf die Erde.
    Was die Erde anging, da konnte man sie nicht täuschen, das wusste sie. Über die Erde ihrer geliebten Cevennen produzierte sie nie unangebrachte Gedanken. Die Dinge entstanden nach einem festen Muster, und sie – Audrun Lunel, ein Kind des Dorfes La Callune – kannte dieses Muster sehr genau. Feuersbrünste oder Wasserfluten konnten kommen (und taten es oft) und alles hinwegfegen. Und doch fiel weiter Regen und wehte der Wind. In den Spalten und an den Wänden von nacktem Felsgestein sammelten sich winzige Partikel von Materie: Fasern toter Blätter, Reste von verkohltem Ginster. Und in der Luft schwebten, fast unsichtbar, Staubflöckchen und Sandkörner, und die sanken zwischen das Geröll und bildeten ein Nest für die Sporen von Flechten und Moosen.
    Innerhalb einer einzigen Jahreszeit konnte der abgebrannte oder kahl gewaschene Kalkstein wieder grün werden. Und dann, während der Herbststürme, fielen mit den Regengüssen, die am Mont Aigoual niedergingen, Beeren und Samen auf die Flechten und schlugen Wurzel. Buchsbaum und Farn begannen dort zu wachsen und bald auch Holzbirnen, Weißdorn, Kiefern und Buchen. Und so ging es immer weiter: vom nackten Stein zum Wald, in einer einzigen Generation. Immer weiter und weiter.
    Aber auch Verstöße gegen das Gesetz waren möglich.
    »Die Menschen können kommen und dich bestehlen, Audrun«, hatte ihre Mutter Bernadette vor langer Zeit geflüstert. »Fremde können kommen. Und andere, die vielleicht keine Fremden sind. Alles, was existiert, kann gestohlen oder zerstört werden. Und darum musst du wachsam sein.«
    Sie hatte sich bemüht, niemals in ihrer Wachsamkeit nachzulassen. Seit sie fünfzehn war – damals war Bernadette gestorben –, hatte Audrun Lunel die Anweisung ihrer Mutter befolgt. Selbst im Schlaf noch hatte sie die große Erschöpfung der wachsamen Beobachterin gespürt. Aber es hatte nicht gereicht, um sie zu retten.
     
    Die Sonne schien warm. Es war ein Frühlingstag wie einst in ihrer Kindheit, wenn sie auf der Treppe
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