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Der unausweichliche Tag - Roman

Der unausweichliche Tag - Roman

Titel: Der unausweichliche Tag - Roman
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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»Seide wird von Raupen gemacht.«
    Wie die anderen hat er es schon immer gewusst. Jeder hier weiß es von seinen Großeltern oder den Urgroßeltern, und nur sie, Mélodie Hartmann aus Paris, hat sich noch nie Gedanken darüber gemacht … bis heute nicht, bis Jeanne Viala mit den Kindern das Museum der Cévenoler Seidenproduktion in Ruasse besucht hat …
    »Gut«, sagt Mademoiselle Viala. »Schreit nicht alle durcheinander. Jetzt du , Mélodie. Stell dir vor, du wolltest gesunde Seidenraupen züchten, was müsstest du als Erstes tun, nachdem du die Eier gekauft hast?«
    Als Erstes . Sie blickt auf ihre Hände, die schmutzig sind, von Schweiß und Staub – von menschlichem Dreck.
    »Sie warmhalten … «, flüstert sie, mit einer Stimme, dünner als die irgendeines winzigen Tiers, das zwischen zwei Getreidehalmen wohnt oder unter einer Baumwurzel.
    »Ja«, sagt Jeanne Viala. »Gut. Und wie würdest du das machen?«
    Mélodie würde gern sagen: Ich habe schon geantwortet. Dashabe ich doch. Mehr möchte ich darüber nicht sagen. Aber sie blickt einfach weiter auf ihre schmutzigen Hände, die die Evian-Flasche halten.
    »Ich weiß es!«, sagt Jo-Jo.
    »Wir wissen es!«, sagen zwei Mädchen, zwei unzertrennliche Freundinnen, Stéphanie und Magali.
    »Na, dann erzähl du es uns, Magali«, sagt Jeanne Viala.
    Magalis Gesicht ist puterrot, ganz heiß vor Stolz und Verlegenheit. »Das hat meine Oma mir erzählt!«, platzt sie heraus. »Man tut sie in einen Beutel, und den steckt man dann in die Unterhose!«
    Als alle um sie herum in Lachen ausbrechen, steht Mélodie auf. Ihre Beine fühlen sich wackelig an, aber sie entfernt sich, so schnell sie kann, von all den lauten Kindern.
    Rotrückige Grillen springen und flitzen vor ihr her. Sie bricht sich einen Zweig mit einer spröden Samenkapsel an der Spitze und versucht, die Insekten damit zu vertreiben. Sie hört die Lehrerin nach ihr rufen, aber sie dreht sich nicht um. Bestimmt weiß Jeanne Viala … ganz bestimmt tut sie das … dass man Heimweh nach Paris hat, wenn man sein Leben lang dort gewohnt hat – zehn ganze Jahre –, Heimweh nach der Stadt, nach einem hübschen, sauberen Zimmer mit Teppichboden in einer hübschen Wohnung, und dass man nicht über Raupen reden möchte, die in einem Beutel unter dem Rock wimmeln. Denn natürlich ist Paris ja nicht einfach verschwunden. Es ist immer noch da. Die Straße ist da. Die Wohnung ist da. Das Zimmer, das einem gehört hat. Und nur man selber wird nie mehr dahin zurückkehren. Nie mehr. Weil Papa etwas »Großartiges« in Aussicht gestellt worden war. Weil ihm eine Beförderung angeboten worden war. Man hatte Papa zum Leiter des Labors für medizinische Analyse in Ruasse ernannt. Leiter . »Das ist fantastisch«, sagt Maman. »Du musst begreifen, dass das eine einmalige Chance ist.« Aber dann bedeutete es einfach nur, dass … es Paris nicht mehr gibt. Jetzt gibt es ein Haus aus dickenSteinen, irgendwo ganz allein in einem schattigen Tal. Stechmücken sirren durch die dunklen, heißen Nächte. Das Haus ist ein mas , was »Mass« ausgesprochen wird. In den Ritzen zwischen den Steinen, wo der Mörtel bröckelt oder schon herausgefallen ist, verstecken sich Skorpione vor der Sonne. Und manchmal sitzt einer, schwarz und tödlich, an der Wand im Zimmer, und Papa muss kommen, und …
    … er bringt einen Holzklopfer oder einen Hammer. Blut steigt ihm ins Gesicht.
    Der Schlag mit dem Hammer hinterlässt einen Abdruck auf der verputzten Wand.
    »So«, sagt er, »alles wieder in Ordnung. Da ist nichts mehr.«
    Nichts mehr.
    Kein Heimweg mehr von der Schule, vorbei am Optikergeschäft, dem Blumenladen und der Pâtisserie an der Ecke. Keine Winterabende mehr, wenn der Pariser Himmel über den Häusern in einem elektrischen Blau leuchtet.
    Kein Ballettunterricht mehr, kein Schwimmtraining, keine Geigenstunden. Nichts mehr .
    Mit ihrem Samenkapselstock wedelt Mélodie sich ihren Weg zwischen den Grashüpfern frei.
    Sie öffnet ein rostiges Eisentor und betritt eine Weide mit hohem Gras, strebt in den Schatten, zu den gelb werdenden jungen Eschen, einem Ort, wo sie allein sein und ihr Wasser trinken kann. Die Lehrerin ruft nicht mehr nach ihr. Vielleicht ist Mélodie weiter gelaufen, als sie gemerkt hat. Es ist windstill und ruhig. Als wäre der Mistral gestorben.
    Mélodie öffnet die Wasserflasche. Sie kühlt nicht mehr, ist dafür schmutzig von ihren Händen und riecht nach Plastik. So sollte sie eigentlich nicht riechen, aber hier,
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