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Der unausweichliche Tag - Roman

Der unausweichliche Tag - Roman

Titel: Der unausweichliche Tag - Roman
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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jungfräulicher Wald.
     
    Der Frühling kam langsam, zögernd, mit heftigen Regenschauern, mit Morgenfrost und mit Nächten, in denen der Wind Anstalten machte, das Dach von der Kate zu reißen.
    Und dann beruhigte sich alles. Die Sonne begann zu wärmen. In Audruns Wald schossen Winterlinge und Hundsveilchen aus dem frischen Gras. Der Kuckuck rief.
    Sie fuhr mit dem Wagen nach Ruasse hinunter, parkte auf dem Platz und ging zu Fuß durch die alte Stadt zum Gefängnis. Ihr war gar nicht bewusst, was sie da gerade tat. Aber irgendein altes Gefühl von … wie sollte sie es nennen? Freundlichkeit? Eine plötzliche innere Gelassenheit hatte sie dazu gebracht, ihre Sonntagskleider anzuziehen, nach Ruasse zu fahren, die steile Kopfsteinpflasterstraße zum Gefängnis hinaufzusteigen und an der Pforte zu fragen, ob sie ihren Bruder Aramon Lunel sehen könne. Noch bevor sie sich dessen richtig bewusst wurde, war sie schon da. Nachdem sie seinen Namen genannt hatte, zogen sich Wolken über der Stadt zusammen, und ein leichter Regen begann zu fallen.
    Sie betrat das Gebäude, und die steinernen Mauern der alten Fremdenlegionskaserne schlossen sich um sie. Die Wärter betrachteten sie neugierig. Sie war, abgesehen von seinem Anwalt, Lunels erster und einziger Besuch. Man bat sie, zu warten. Sie hatte ein unförmiges Paket dabei, das in Zeitungspapier eingeschlagen war, doch das hatte man ihr abgenommen.
    Sie setzte sich auf eine harte Bank und horchte auf die Gefängnisgeräusche. Nach einer Weile wurde ihr das Zeitungspaket wiedergegeben, und sie wurde in einen länglichen Raum geführt, der für Gefängnisbesuche vorgesehen war. Die Tische und Stühle darin sahen aus wie für eine Schulprüfung. Der Raum war völlig leer, bis auf Audrun und einen älteren Gefängniswärter, in dessen Züge sich tiefste Melancholie eingegraben hatte.
    »Kennen Sie meinen Bruder?«, fragte Audrun.
    Der Wärter nickte.
    »Ist er … ist er in der Lage, durchzuhalten ?«, fragte sie.
    Der Wärter zuckte die Schultern. »Er wird nie wieder gesund werden«, sagte er. »Seine Magengeschwüre wurden behandelt, aber sie bluten noch immer …«
    »Und … sein Verstand … wie ist sein Verstand?«
    Gerade als Audrun das sagte, hörte sie, wie ein Schloss aufgesperrt wurde, dann öffnete sich die Tür, und Aramon betrat den Raum. Er trug seine Gefängnisuniform: graue Hose, blaues Hemd, grauen Pullover. Und in dieser Kleidung, dachte Audrun, sah er besser angezogen aus als in den langen Jahren davor. Er war frisch rasiert, seine Haare waren geschnitten und gewaschen. Das Gefängnis hatte ihn gereinigt.
    Ein zweiter Wärter führte ihn an den Tisch, wo Audrun saß, und zog sich wieder zurück an die Tür. Dort hielten die beiden Gefängnisbeamten zusammen Wache.
    Aramon stand mit hängenden Armen da und sah Audrun an. Hinter sich hörte sie den Regen gegen die schmalen Fenster prasseln. Aramon setzte sich. Er legte die Hände flach auf den verschrammten Holztisch, der sie trennte.
    »Normalerweise bekomme ich keinen Besuch«, sagte er.
    »Nein?«, sagte Audrun. »Aber du bist ja auch ans Alleinsein gewöhnt.«
    Ihr fiel auf, dass die Traurigkeit aus seinen Augen verschwunden war. Er roch nach scharfer Seife, nicht nach Alkohol. Undsein Blick hatte etwas Hektisch-Fröhliches, als hätte er gerade etwas Aufregendes erfahren.
    »Du musst mich nicht bedauern«, sagte er.
    »Ich bedaure dich auch nicht«, sagte Audrun.
    »Ich habe ein Zimmer für mich«, sagte er. »Weiß gestrichen. Gut, es ist eine Zelle, kein Zimmer, aber für mich ist es wie mein kleines Zimmer. Ich habe meine eigene Toilette und ein Waschbecken.«
    »Schön. Das ist gut.«
    »Und ein Bild von den Niagarafällen an der Wand.«
    »Ja?«
    »Ich finde Wasserfälle schön. Es gab welche im Gardon, oben beim Mont Aigoual, im Winter, nach dem Schnee. Weißt du noch?«
    »Ja.«
    »Sie erlauben mir nicht, mein Niagarabild zu rahmen. Blöde Idioten. Sie wollen nicht, dass ich Glas in die Finger bekomme – damit ich mir nicht die Pulsadern aufschneide, pardi ! Aber mir ist gar nicht nach Pulsadern Aufschneiden. Mir geht es gut.«
    »Das freut mich.«
    »Ich sage ja, du musst mich nicht bemitleiden. Ich bin stolz auf meine Zelle. Ich halte sie sauber. Nicht wie drüben im Mas. Da oben sind mir die Dinge über den Kopf gewachsen. Selbst auf den Terrassen bin ich mit der Arbeit nicht hinterhergekommen. Hier geht es mir besser.«
    »Ja?«
    »Und ob! So wie es dir in deiner Kate besser geht, Audrun.
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