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Der unausweichliche Tag - Roman

Der unausweichliche Tag - Roman

Titel: Der unausweichliche Tag - Roman
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Gefängniskrankenhaus kam, fühlte er sich fast wieder gesund, jedenfalls gesund genug, um aufrecht zu stehen, gesund genug, um bei den Mahlzeiten, beim Hofgang oder in der Werkstatt, wo er Paletten zusammenbaute, ein paar Witze zu reißen.
    Er schloss Freundschaft mit einem anderen Mörder, einem alten Somalier namens Yusuf, der ein ansteckendes, schrilles Lachen besaß. Yusuf erklärte, er könne sich ebenfalls nicht an sein Verbrechen erinnern. Die Polizei behaupte zwar, es habe mehr als eines gegeben, aber er selbst habe längst vergessen, was das für Taten gewesen sein könnten und warum er sie begangen haben sollte. Er sagte zu Aramon: »Es ist egal. Vor langer Zeit war ich vielleicht böse, ich habe vielleicht auch einem Menschen die Kehle durchgeschnitten oder sogar die Kehle von mehr als einem Menschen, aber Gott hat mir vergeben. Er hat meine Qualen beendet. Er hat mir sogar Ruhe und Obdach im Alter geschenkt. Und jetzt schenkt er dir das auch.«
    Ruhe und Obdach im Alter.
    Bei dieser Vorstellung musste Aramon lächeln. Er entwickelte sogar ein bisschen Stolz auf seine Zelle. Er putzte sie sorgfältig. Im Mas Lunel hatte er alles verkommen lassen. Es hatte ihm nichts ausgemacht – er hatte es kaum wahrgenommen–, wenn es dort stank. Bis es irgendwann so widerlich und so kompliziert geworden war, dass er es nicht mehr ertrug und Audrun bitten musste, das Haus wieder in Ordnung zu bringen.
    Hier im Gefängnis desinfizierte er die Toilettenschüssel dreimal in der Woche. Er zog das Bettlaken straff. Er hätte auch gern Bilder oder Fotos besessen, um sie an die Wände zu heften: Ansichten von Orten, wo er nie gewesen war und nie hinkommen würde und die deshalb nichts von ihm wollten. Die Niagarafälle. Der Ätna. Die große chinesische Mauer. Venedig. Ein See in Somalia, in dem, wie Yusuf erzählt hatte, Männer im scharlachroten Sonnenuntergang nach Aalen angelten. Diese Bilder wären ein Ruheplatz für seine Seele: ein Ort zum Verweilen.
     
    Viele der Gefängnisinsassen waren junge Männer – weiße Franzosen, Somalier und Nordafrikaner, die meist, je nach Herkunft, eigene Gruppen bildeten.
    Während der Mahlzeiten und beim Hofgang rivalisierten diese Gruppe, – protzten und prahlten und fluchten. Manchmal gab es blutige Kämpfe, und die amüsierten Aramon. Er konnte sich noch gut erinnern, was es hieß, zwanzig Jahre alt und voller Wut zu sein. Aber Yusuf gegenüber gestand er: »Ich möchte nicht wieder jung sein. Es ist viel zu anstrengend.«
    Eines Tages scharte sich eine Gruppe junger weißer Männer im Hof um Aramon, und einer von ihnen, ein Junge namens Michou, sagte: »Wir haben gehört, dass du der Typ bist, der diesen rosbif plattgemacht hat. Den aus der Zeitung, der verschwunden war. Stimmt das?«
    Aramon lehnte am Drahtzaun und rauchte. Der Himmel war bleiern und die Luft kalt. Er blickte in die erwartungsvollen Gesichter, und sein Stolz, seine Männlichkeit ließen nicht zu, dass er diesen jungen Kerlen gestand, er wisse nicht, ob er Vereys Mörder war oder nicht.
    »Ja«, sagte er. »Der bin ich.«
    Die Jungs begannen zu feixen. Michous Freund Louis sagte: »Du hast ihm seine bleiche Visage weggeschossen? Echt?«
    Ihm seine bleiche Visage weggeschossen …
    Mit fester Stimme sagte Aramon: »Er hatte mir Geld versprochen. Eine Menge Geld für ein Grundstück. Wir hatten eine Abmachung. Und dann wollte er sich nicht dran halten. Der Scheißkerl. Wollte mich betrügen. Aber niemand betrügt ein Mitglied der Lunel-Familie!«
    »Wie war das denn für dich? Puff ! Ein Ausländer weniger! Verdammt gutes Gefühl, was?«
    »Es war in Ordnung«, sagte Aramon.
    »Hast du ihm den Kopf mit dem ersten Schuss weggeblasen?«
    »Nicht seinen Kopf«, sagte Aramon. »Ich habe ihn in den Bauch geschossen.«
    Er wollte schon angeben, er hätte Verey mit einem Schuss getötet, doch dann fielen ihm die zwei leeren Patronen in der Kammer ein, und er stotterte: »Ich dachte, ich hätte ihn schon mit dem ersten erledigt, aber meine Hände haben gezittert. Da musste ich noch einen drauflegen.«
    »Wie? Und dann sind seine Eingeweide rausgequollen?«
    »Genau.«
    »Hast du gut gemacht«, sagte Michou. »Ausländer sind Ungeziefer. Jedes Scheißjahr werden es mehr, wimmeln hier rum wie die Ratten. Und nehmen sich einfach, was uns gehört. Die versuchen doch dauernd nur, uns zu betrügen. Hast du gut gemacht, Alter.«
    Danach »kümmerte sich« diese Gruppe – Michou, Louis und noch drei andere – um Aramon, aus
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