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Der unausweichliche Tag - Roman

Der unausweichliche Tag - Roman

Titel: Der unausweichliche Tag - Roman
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Untersuchungshaft in einem Gefängnis oberhalb von Ruasse und wartete auf seine Verhandlung. Er wusste, dass der Prozess in weiter Ferne lag und sein Ausgang vorhersehbar war, deshalb dachte er selten darüber nach.
    Er versuchte, sein Leben immer nur tageweise zu leben.
    In dem Gefängnis war früher ein Regiment der französischen Fremdenlegion stationiert. Die Gebäude waren aus massivem Stein erbaut, im Winter war es dort kalt. Aramon hatte eine Zelle für sich. Man wollte Mörder und Sexualstraftäter von den kleineren Kriminellen fernhalten. Laut Anweisung des Gouverneurs sollten Männer, die das Leben anderer Menschen vernichtet oder für immer beschädigt hatten, gezwungen sein, ein gewisses Maß an Einsamkeit zu erdulden. Aramon war dagegen allerdings immun. Er war seit dreißig Jahren einsam.
    Die Zellenwände waren weiß gestrichen. Es gab ein kleines Fenster, das mit einem Eisengitter gesichert war. Durch die gekreuzten Gitterstäbe konnte Aramon tief hinunter ins Tal und auf die Dächer der Stadt sehen: auf die schiefen rotgrauen Ziegeldächer und die kastenförmigen Schornsteine des alten Ruasse, auf das nichtssagende Wellblech der Supermärkte und auf die Wassertürme und Sendemasten der Hochhäuser in den billig aus dem Boden gestampften Vororten aus den 1970ern, die immer noch »neu« genannt wurden.
    In einem dieser Betonsilos hatte das Mädchen Fatima gelebt und ihren Tod gefunden, und manchmal ertappte Aramon sich dabei, dass er an sie dachte, daran, wie sie ihre Lampenschirme mit Tüchern verhängt hatte, die die Schäbigkeit ihres Zimmers kaschieren sollten, und wie sie ihn anmachte, indem sie ihren Bauch kreisen ließ. Hin und wieder fragte er sich sogar, ob er sie am Ende nicht doch umgebracht hatte. Umgebracht wegen ihres fetten, kreisenden Leibs. Umgebracht, weil sie nicht die Person war, die er liebte.
    Fatima, die bauchtanzende Hure. Er hatte keine Erinnerung daran, dass er ihren Körper vom Brustbein bis zur Scham aufgeschlitzt hatte. Nicht die geringste. Aber er hatte ja auch keine Erinnerung daran, dass er Anthony Verey mit der Flinte erschossen hatte. Anfangs hatte er geglaubt, er würde irgendwann wiederkehren, jener Augenblick am Fluss. Er würde wieder in sein Hirn dringen wie ein Kinofilm, und dann würde er es fühlen , es mit seinem ganzen Wesen fühlen, dass er jemandem das Leben genommen hatte. Aber die Zeit verging, und es geschah nichts. Es gab keinen Film, kein Fühlen: nur Nebel und Dunkelheit.
    Sein Anwalt, Maître de Bladis, hatte ihm erläutert, sein Verstand habe die schrecklichen Dinge, die er getan hatte, »ausgeblendet«. Einige Mörder, hatte de Bladis argumentiert, könnten die quälenden Gefühle von Entsetzen und Schuld »einfach nicht ertragen« – und mit hoher Wahrscheinlichkeit sei er einer von ihnen. Daraufhin hatte man ihm mitgeteilt, dass er Anspruch auf psychiatrische Hilfe habe, falls er danach verlange.
     
    Seine Zelle war vier Meter lang und zweieinhalb Meter breit. Es gab ein Holzbett, eng und sehr niedrig. Das einzige Kissen war überraschend weich. Unter dem Fenster stand ein Holztisch mit einem Stuhl.
    In der Ecke direkt neben der Tür befanden sich Toilette und Waschbecken, beide angeschlagen und fleckig, aber benutzbar. Und wenn Aramon nachts seine Blase entleeren musste, dachte er häufig, wie praktisch – wie fast schon erfreulich – es war, vom Bett nur wenige Schritte zum Klosett zu haben.
    Manchmal machte er sich nicht einmal die Mühe aufzustehen, sondern kroch auf den Knien zur Toilettenschüssel (die ebenfalls dicht über dem Boden saß). Zurück auf seinem Lager, horchte er auf den anbrechenden Morgen draußen vorm Fenster und versank häufig in Traumfantasien. Er war dann wieder ein Junge, der morgens, noch bevor die Sonne hinter den Bergenvon La Callune hervorkam, in den Zwiebelbeeten schuftete.
    Nach seiner Ankunft im Gefängnis hatte man ihn erst einmal ins Krankenhaus verlegt, weil er sein Essen nicht bei sich behielt. Er erklärte den Gefängnisärzten, dass er wahrscheinlich Magenkrebs habe. Erstaunlicherweise zeigten sie sich ihm gegenüber ausgesprochen mitfühlend und freundlich. Man machte eine Ultraschallaufnahme und teilte ihm mit, es gebe keinen Krebs, nur zwei blutende Geschwüre.
    »Kein Wunder«, sagte Aramon. »Das habe ich gefühlt, pardi : dieses innere Bluten. Ich glaube, das geht schon sehr lange so.«
    Er bekam eine basische Diät. Die Zigaretten wurden ihm für eine Weile weggenommen. Und als er aus dem
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