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Der unausweichliche Tag - Roman

Der unausweichliche Tag - Roman

Titel: Der unausweichliche Tag - Roman
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Lederpolster und döste in die zunehmende Dunkelheit.
    Zwischen Schlafen und Wachen erinnerte sie sich wieder an die Zeit, als sie für Susan sorgte. Es war ein fester, unveränderlicher Tagesablauf gewesen, an den sie sich als Mädchen eisern gehalten hatte. Fast wie ein Gottesdienst, dachte sie jetzt, jeder Schritt wurde Morgen für Morgen in exakt derselben Weise vollzogen, ohne dass sie jemals etwas ausgelassen oder vermasselt hätte. Nichts hatte jemals zum falschen Zeitpunkt oder an der falschen Stelle stattgefunden:
    Aufwachen um sechs.
    Aus dem Fenster gucken, wie das Wetter wird. Auf Sonne hoffen im Sommer, auf Regen im Frühling, auf Schnee oder strengen Frost im Winter: alles zu seiner Zeit.
    Alte Sachen anziehen: Baumwollhemd, Jeans, Pullover, Stiefel, Reitkappe.
    Leise wie eine Fee die Treppe hinunterschleichen. Die hintere Haustür aufschließen.
    Die erste frische Morgenluft einatmen. Am liebsten den ganzen Weg zum Stall rennen wollen, rennen und rennen.
    Die Stalltür öffnen, Susan umarmen und ihren Geruch einatmen und mit ihr reden und ihr eine Handvoll Hafer geben.
    Halfterstrick nehmen. Susan hinausführen. Sie am Pfosten festbinden.
    Die Schaufel holen und mit dem Ausmisten beginnen. Was meistens zwanzig Minuten dauert.
    Den Stall abspritzen. Frisches Stroh ausbreiten. Schön weich und dick schichten.
    Den Wassertrog füllen.
    Satteln. Gurte ordentlich und korrekt festziehen. Susan zur Weide führen. Die Sonne ist inzwischen aufgegangen oder, im tiefen Winter, beinahe. Oder es regnet.
    Zweimal um die Weide trotten, dann einfach nur sanft in Susans breite Flanken treten, als Hilfengebung für den wiegenden Canter. Den vollkommensten und angenehmsten Canter, den je ein Pferd hingelegt hat: kantapper, kantapper, leicht und schön. Während Bäume und Zäune vorbeitanzen.
    Und während sie vorbeitanzen, zwei Atemfahnen vor sich sehen, meine und Susans, die mir zeigen, wir sind lebendig, lebendig, lebendig, lebendig …
     
    Veronica räkelte sich in ihrem komfortablen Autositz.
    Sie musste wohl für einen Moment geschlafen haben, denn sie hatte geträumt, nicht von Susan, sondern von Kitty.
    Im Traum hatte Kitty ihr eine Einladung zur bevorstehenden Ausstellungseröffnung geschickt: Neue Arbeiten von Kitty Meadows. Auf der Einladungskarte war Kittys Aquarell der Mimosenblüte abgebildet. In der Verkleinerung wirkte dieses Bild handwerklich perfekt, und Veronica wünschte sich jetzt, um Kittys willen, dass es wahr wäre: dass da eine Einzelausstellungfür sie stattfand und dass das Mimosen-Aquarell ihr vollendet gelungen war. Doch sie wusste, dass beides nicht der Fall war.
    Tatsächlich war noch vor Veronicas Aufbruch nach England in Les Glaniques eine Postkarte von Kitty aus Adelaide gekommen. Mit einem Bild der lächelnden Kitty in weißem T-Shirt und blauer Latzhose und mit einem Koalabär im Arm. Als Bildunterschrift hatte Kitty geschrieben: Wenigstens einer, der mich liebt!
    Veronica hatte lange das Foto betrachtet, auch die nach hinten kippende Handschrift, und hatte sich Kitty vorgestellt, wie sie, allein in einem Hotelzimmer in Adelaide, beim Schreiben lächelte, einen Moment lang stolz auf ihren traurigen kleinen Witz.
    Dann hatte Veronica die Karte zerrissen und weggeworfen.
     
    Veronica griff nach ihrer Handtasche, holte eine Pfefferminzpastille heraus und steckte sie in den Mund.
    »Alles in Ordnung?«, fragte Lloyd.
    »Ja«, antwortete Veronica. »Sie sind ein sehr guter Fahrer, Lloyd. Möchten Sie auch ein Tic-tac?«
    Lloyd lehnte dankend ab. Veronica schwieg eine Weile, dann sagte sie plötzlich: »Ich habe übrigens nachgedacht: Gärtnern in Südfrankreich ist wirklich eine mühselige Angelegenheit. Ich kann dort keinen einzigen meiner Lieblinge pflanzen, es ist viel zu trocken.«
    »Kann ich mir vorstellen.«
    »Ich träume immer häufiger von englischen Blumen; Wicken, Pfingstrosen, Vergissmeinnicht …
    Lloyd stellte das Mozartkonzert aus, das, seit sie in Hampshire losgefahren waren, leise in einer Endlosschleife gelaufen war.
    »Kommen Sie nach Hause«, sagte er. »Verkaufen Sie alles in Frankreich, und suchen Sie sich hier ein Haus. Benita kann Ihnen bei der Inneneinrichtung helfen, wenn Sie möchten. LegenSie einen göttlichen Garten an, Veronica. Stellen Sie sich Primeln und Himmelsschlüssel und Narzissen und Spaliere voller üppiger Rosen vor …«
    »Ja«, sagte sie ruhig. »Ich glaube, das könnte mir gefallen. Genau das: ein englischer Garten und eine Weide für ein
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