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Der unausweichliche Tag - Roman

Der unausweichliche Tag - Roman

Titel: Der unausweichliche Tag - Roman
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Pferd. Oder ist das furchtbar egoistisch?«
    »Ich wüsste nicht, wieso«, sagte Lloyd. »Wo das Leben doch so verdammt kurz ist.«

A udrun erwachte in einem dunklen Raum.
    Sie lag in einem Bett, aber sie wusste, dass dies hier nicht ihr eigenes Schlafzimmer in ihrem Häuschen war. Doch wo war sie dann? Irgendetwas roch beißend. Waren die Wände vielleicht feucht? Befand sie sich in einer Gefängniszelle?
    Sie versuchte, sich aufzurichten. Aber da war ein Schmerz in ihrer Brust, der sofort stärker und intensiver wurde, wenn sie sich bewegte. Er drückte sie so heftig in die Kissen zurück, als stieße sie ein alter Feind, der an ihrem Bett stand.
    Sie tastete nach ihrem Brustbein und knetete die dünne Haut. Mehr als warten konnte sie nicht tun: warten, dass jemand den Raum betrat oder eine Lampe anknipste. Dann wüsste sie Bescheid …
    Falls das hier ein Gefängnis war, war es sehr ruhig. Kein Türenauf- oder -zuschließen. Kein Gebrüll. Keine Schritte. Oder war sie von Geräuschen umgeben, die sie nicht hören konnte? War die Stille in ihr? Sie versuchte, ihren eigenen Namen zu flüstern: Audrun Lunel. Sie glaubte ihn zu hören, aber es klang zaghaft und wie von weit her, als würde ein schüchternes Schulkind beim Morgenappell nur zögernd seinen Namen aussprechen.
     
    Genau daraus hatte ein Großteil ihres Lebens bestanden: aus reglosem Warten in der Dunkelheit. Sie hatte Übung in diesem ergebenen Warten.
    Doch worauf wartete sie diesmal? Bis auf die seltsam riechende Luft, die sie einzuatmen gezwungen war, gab es keinerlei Hinweise auf das, was hier vor sich ging.
    Sie begann, ihr Gedächtnis zu durchforsten.
    War der gutaussehende Inspektor wiedergekommen und hatte sie verhaftet? Hatte das arme, traumatisierte Kind MélodieHartmann oder vielleicht sogar Jeanne Viala sich an etwas erinnert und es ihm ins Ohr geflüstert – etwas, das niemand anderes wusste?
    Oder hatte er selbst, Inspektor Travier, etwas entdeckt, das allen anderen verborgen geblieben war – so wie seine Kollegen im Kino mit ihren himmelblauen Augen stets zuverlässig den verschütteten Pfad zur Wahrheit fanden?
    Audrun konnte sich nicht an eine Festnahme erinnern. Das Letzte, was sie noch wusste, war, dass sie mit Marianne an der Straße stand und das Feuer in den Bergen sah und dass Marianne zu ihr sagte, die Löschflugzeuge seien schon unterwegs. Aber was war danach geschehen? Waren die Flugzeuge gekommen? Hatte sich das Wasser über die Bäume ergossen? War sie in ihre Kate zurückgegangen, hatte die Tür verschlossen und sich in ihren Sessel gesetzt? Und dann?
    Es tut mir leid, Mademoiselle Lunel. Es tut mir leid, Sie schon wieder zu stören, nach all der Aufregung über das Feuer, aber dürfte ich Ihnen vielleicht noch ein paar Fragen stellen …?
    Hatte er diese Worte gesagt? Sie kamen ihr bekannt vor. War er mit demselben Wachtmeister erschienen, dem Notizenmacher?
    Nur noch ein paar Fragen.
    Es wird nicht sehr lange dauern. Ich möchte nur noch ein oder zwei Dinge klären …
    Er war so nett gewesen, so höflich. Doch es waren ja stets die gewaltsamen, die bösen Dinge, an die sich das Herz und der Körper erinnerten, nicht die Gespräche mit freundlichen Menschen.
     
    In einem Gefängnis eingesperrt zu sein: Audrun fand, dass es nichts Schrecklicheres gab. Sie hätte den charmanten Inspektor gern daran erinnert, falls er es nicht bereits wusste: »Ich habe das schon einmal durchlitten, als ich jung war. Von fünfzehn bis dreißig – die ›besten‹ Jahre meines Lebens hindurch. Ich weiß,was es heißt, im Gefängnis zu sein. In zwei Gefängnissen, um genau zu sein. In der Unterwäschefabrik, wo ich Schwefelkohlenstoff einatmen musste; und in meinem Zimmer, das nach meinem Bruder und meinem Vater stank. Ich wollte nur noch sterben.«
    Das tut mir leid, Mademoiselle Lunel, und Sie haben durchaus mein Mitgefühl, aber es ändert nichts. Ich verhafte Sie wegen Mordes an dem Engländer Anthony Verey. Sie haben das Recht zu schweigen …
    Man hatte sie wohl in einem Polizeibus abtransportiert und in eine Zelle geworfen. Und da würde sie für immer bleiben, umgeben vom Gestank der anderen, genau wie in der Fabrik – als wäre sie ihr am Ende doch nicht entkommen.
    Sie begann zu weinen. Sie bekam nur schwer Luft. Ihre Tränen waren heiß auf ihrer Haut und sickerten in kleinen Rinnsalen in ihr Haar. Dann sagte eine Stimme in der Dunkelheit: »He, Mund halten. Die Leute hier brauchen ihren Schlaf.«
    »Wo bin ich?«, fragte
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