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Die Macht der Angst (German Edition)

Die Macht der Angst (German Edition)

Titel: Die Macht der Angst (German Edition)
Autoren: Shannon McKenna
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Prolog
    1994, Portland, Oregon
    Tony Ranieri zog an seiner Zigarette und ließ die altersfleckigen Erkennungsmarken durch seine Finger gleiten. Er hatte keine Geduld für Rätsel. Nicht in Büchern, nicht in der Glotze. Er sah darin nichts als hirnrissige, nervenzermürbende Zeitverschwendung. Und trotzdem konnte er sich diesem nicht entziehen.
    Er beobachtete, wie der Junge Desinfektionsmittel in den Eimer gab und sich den Fußboden vornahm. Tony musterte den strähnigen aschblonden Pferdeschwanz, die kräftigen Muskeln, die sich unter dem von ihm geborgten T-Shirt, das dem Jungen zwei Nummern zu groß war, wölbten. Ein erschreckendes Narbengeflecht schlängelte sich spiralförmig über seine Haut. Seine Wunden hatten in jener Nacht vor nunmehr fast zwei Jahren, als Tony den armen Tropf gefunden hatte, noch immer geblutet. Er hatte sich nicht getraut, ihn in ein Krankenhaus zu bringen, aus Angst, dass die Gangster, die ihm das angetan hatten, nur darauf warteten.
    Tony war fest davon ausgegangen, dass sich die Verletzungen infizieren würden. Zudem der Junge innere Blutungen und zig Knochenbrüche davongetragen hatte. Und dann sein Gesicht. Heilige Madonna.
    Er hatte sich seelisch darauf eingestellt, den Leichnam heimlich verbuddeln und so tun zu müssen, als habe er den Jungen nie gesehen. Als würde nicht so schon genug auf seinem Gewissen lasten.
    Aber der Junge war nicht gestorben. Ohne sich um das Rauchverbot in der Küche des Imbisslokals zu kümmern, zog Tony wieder an seiner Zigarette. Seine Schwester Rosa, dieses kolossale Schlachtschiff von einer Frau, war zwar im Haus, doch sie schlief längst. Sein Großneffe Bruno hatte sich ebenfalls schon vor Stunden ins Bett verkrümelt. Und der Junge würde ihn auf keinen Fall verpfeifen. Er hätte es nicht gekonnt, wenn sein Leben davon abhängen würde. Er konnte Geschirr spülen, Zwiebeln hacken, Teller leer kratzen und kämpfen wie ein wild gewordener Stier, aber er brachte nicht ein einziges verfluchtes Wort heraus.
    Er war auch nicht mehr wirklich ein Junge, sondern musste schon um die zwanzig gewesen sein, als Tony ihn fand, doch weil er bis heute noch keinen richtigen Draht zu ihm gefunden hatte, war es bei »der Junge« geblieben. Abgesehen von seiner Schweigsamkeit und seinen Narben ließen sich keine prägnanten Charakteristika an ihm feststellen. Ohne die Narben wäre der Junge so attraktiv gewesen wie ein Filmstar. Dabei konnte er von Glück reden, dass sie ihm sein Augenlicht gelassen hatten. Tony hätte seinen rechten Arm darauf verwettet, dass der Peiniger des Jungen gerade dabei gewesen war, sich dessen Augen und anschließend seine Eier vorzuknöpfen. Er wusste, was solche Sadisten antörnte. Er wusste es nur zu gut.
    Aber irgendetwas hatte die Folterorgie unterbrochen. Der Wichser musste beschlossen haben, dem Jungen einfach den Rest zu geben. Ihn totzuschlagen und die Leiche zu entsorgen.
    Warum auch immer. Rätsel über Rätsel. Verdammt.
    Der Junge unterbrach sein Bodenwischen und schaute über seine Schulter. Er wollte etwas sagen, wollte es unbedingt. Seine grünen Augen brannten vor Dringlichkeit. Doch es kam nichts heraus. Die Drähte waren gekappt. Er war ein Wrack. Es tat weh, ihn anzusehen.
    Der Junge ließ die Schultern hängen. Dann machte er sich wieder an die Arbeit. Flatsch. Tunk. Wisch.
    Tony schloss die Hand um die Erkennungsmarken und drückte die Kippe aus. Er war ein geradliniger Typ. Töte oder werde getötet, war die Art von Motto, mit dem er sich identifizieren konnte. Unklarheiten störten seine Verdauung. Er hatte die Marken in jener Nacht, als er den Killer verjagt hatte, in der blutdurchtränkten Jeanstasche des Jungen entdeckt. Doch entgegen Tonys anfänglicher Vermutung waren es nicht seine.
    Diese Hundemarken gehörten einem alten Soldaten. Aus Tonys Generation. Aus Tonys Krieg.
    Tony hatte Nachforschungen angestellt, sich unter seinen ehemaligen Marine-Kameraden umgehört und Geschichten erfahren, die selbst dem abgebrühtesten Haudegen das Blut in den Adern gefrieren lassen würden. Der Name auf dieser Marke säte Angst in den Herzen kampferprobter Männer. Er gehörte einem Scharfschützen, einem Mörder, einem Monster. Man beschuldigte ihn unsäglicher Gräueltaten. Nach Vietnam war er untergetaucht, bevor man ihn vor ein Kriegsgericht stellen konnte. Vermutlich schlitzte er seither im Auftrag von Unterweltgrößen Kehlen auf.
    Er musste heute in Tonys Alter sein, hatte wahrscheinlich ein ganzes Team unter sich.
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