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Der unausweichliche Tag - Roman

Der unausweichliche Tag - Roman

Titel: Der unausweichliche Tag - Roman
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Sonne brannte vom Himmel.
    Aber da war noch etwas. Ganz am Rand der Szene, in der äußersten rechten Ecke, fast zwischen Laubwerk verborgen, war ein finsteres Gesicht zu erkennen, das Gesicht einer alten Frau. Auf ihrem Kopf saß eine schwarze Mütze. Sie richtete einen außerordentlich bösen Blick auf die Menschen im Gras. Aber niemand schenkte ihr auch nur die geringste Beachtung. Es war, als nähmen sie die Frau einfach nicht wahr.
    Immer wieder ertappte Anthony sich dabei, wie er das Gesicht dieser alten Frau ausgiebig studierte. War sie Teil des ursprünglichen Entwurfs? Sie schien unwirklich zu sein: ein körperloses Gesicht, eine knotige Hand am Kinn, der ganze übrige Körper von Bäumen verborgen. Hatten die Tapisserieweber (»Wahrscheinlich aus der Werkstatt des Pierre Dumonteil, 1732-1787«) sich ihre monotone Arbeit dadurch angenehmer gemacht, dass sie dieses kleine, aber aufschlussreiche Detail aus eigenem Entschluss hinzugefügt hatten?
    Anthony trank den letzten Rest Kaffee und wollte gerade an seinen Schreibtisch gehen, um eher halbherzig die wöchentlichen Abrechnungen zu erledigen, als ihm etwas Besonderes ins Auge fiel. Ein loser Faden im Gewebe.
    Eine der Halogenlampen schien direkt auf die Stelle. Der schwarze Faden hing über der Stirn der Frau, als handelte es sich um eine Haarsträhne des alten Weibs. Anthony setzte seinen Becher ab. Er streckte die Hand aus und nahm den feinen, seidenen Faden zwischen Daumen und Zeigefinger.
    Der Faden war kaum einen Zentimeter lang. Er fühlte sich außerordentlich weich an, und Anthony ließ seine Hand dort oben, rieb den Faden eine Weile, vielleicht eine Minute, es hätten aber auch drei Minuten oder vier oder sogar sieben sein können, auf jeden Fall so lange, dass ihm die schockierende undunumstößliche Tatsache, die das Leben ihm da ganz plötzlich offenbart hatte, voll ins Bewusstsein dringen konnte: Wenn er starb, würde er nicht das kleinste Fragment, keine einzige Scherbe von auch nur einem seiner Lieblinge mit ins Grab nehmen können. Und falls sich herausstellen sollte, dass es irgendein Jenseits gab, was er bezweifelte, hätte er gar nichts dabei, das ihn dort trösten könnte, nicht einmal diesen schwarzen Seidenfaden, der keinen Zentimeter lang war.
    Die Türglocke ertönte und weckte Anthony aus diesem Trancezustand, den er, in all den kommenden Tagen und Wochen, im Nachhinein für überaus bedeutsam halten sollte. Ein Mann im Nadelstreifenanzug und mit rosafarbener Krawatte betrat das Geschäft. Er blickte sich um. Kein Händler, entschied Anthony sofort, nicht einmal ein privater Sammler, nur einer der reichen Ahnungslosen , die erst dieses und dann jenes anschauen und gar nicht wissen, was sie da sehen …
    Anthony wartete, bis der Ignorant beim teuersten Objekt des Ladens angelangt war, einem Konsoltischchen aus vergoldetem Holz mit Marmorplatte (»Platte mit Marmoreinlagen und Umrandungen im verde-antico -Dekor, erstes Viertel 19. Jh., italienisch. Das vergoldete Gestell und die stützenden stehenden Atlasfiguren drittes Viertel 18. Jh. Ebenfalls italienisch.«), und näherte sich ihm dann langsam.
    »Kann ich Ihnen vielleicht behilflich sein?«
    »Ja«, sagte der Mann, »wahrscheinlich. Ich suche nach einem Hochzeitsgeschenk für meine Schwester. Sie kaufen sich ein Haus in Fulham. Ich würde ihnen gern etwas … ich weiß nicht … vielleicht für die Diele schenken. Etwas, das allen … ähm … auffällt.«
    »So«, sagte Anthony. »Für die Diele. Nun …«
    Er registrierte, wie der Mann mit großen Augen die vergoldeten Atlasfiguren anstaunte, weshalb er direkt zu dem Konsoltischchen ging und liebevoll über die Marmorplatte strich. »Das ist ein Prachtexemplar«, sagte Anthony, und seine Stimme hattenoch immer diesen nicht ganz feinen Akzent, nur hatte er es inzwischen aufgegeben, ihn zu unterdrücken. »Ein absolutes Traumschiff. Aber es braucht Raum für einen angemessenen Auftritt. Wie groß ist denn die Diele Ihrer Schwester?«
    »Keine Ahnung«, sagte der Mann. »Hab sie noch nicht gesehen. Aber die goldenen Cherubim oder was das da sein soll, die gefallen mir. Machen ordentlich was her! Und … ähm … der Preis?«
    Anthony setzte seine Brille auf, bückte sich und suchte eine ganze Weile nach dem Schildchen, das an dem marmornen Sockel mit den stehenden Atlasfiguren klebte. Er richtete sich wieder auf und sagte ohne jedes Lächeln: »Achtundzwanzigtausend.«
    »Okay«, sagte der Mann und befingerte die rosafarbene
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