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Der unausweichliche Tag - Roman

Der unausweichliche Tag - Roman

Titel: Der unausweichliche Tag - Roman
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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zuvor. Doch daran war nichts zu ändern. Tatsache war, dass Anthony seine Verachtung genoss. Diese Verachtung – die einem Spezialistenwissen oder, wie er es für sich nannte, einer Geheimwissenschaft entsprang – hatte er in vierzig Jahren perfektioniert, und jetzt bildete sie eines der wenigen Vergnügen, die ihm geblieben waren.
    Anthony stützte den Kopf in die Hände. Er griff sich ins Haar. Immerhin, das besaß er noch: Er besaß noch sein Haar. Er mochte ja vierundsechzig sein, aber seine Haarpracht war fantastisch.Und was ihm am meisten daran gefiel, war natürlich der Neid, den das volle Haar unter seinen Freunden weckte – den wenigen, die er noch besaß –, die die Scham über ihre blanken, rosigen Schädel tagein, tagaus ertragen mussten. Und jetzt überraschte er sich bei dem heimlichen Eingeständnis, das er allerdings schon viel früher hätte machen können: Der Neid der anderen – diese verflixte Invidia , zu der die Menschheit auf so zerstörerische Weise neigte – war wirklich und wahrhaftig das gewesen, was ihn am Leben gehalten hatte. Diese Erkenntnis war zwar nicht weltbewegend, aber sie traf zu. Geliebte beiderlei Geschlechts und kurzfristig sogar eine Ehefrau namens Caroline, sie alle waren gekommen und gegangen, nur die Bewunderung und der Neid anderer Menschen waren geblieben, hatten ihn bei der Arbeit und in den Ruhepausen begleitet, ihn genährt und gestreichelt, ihm das Gefühl gegeben, dass sein Leben einen Sinn und einen Zweck hatte. Und jetzt war auch das vorbei.
    Mitleid war an seine Stelle getreten. Alle wussten, wie er strampelte und dass er womöglich unterging. Sicherlich diskutierten sie es bei ihren feinen Soupers: »Wer will denn noch braune Möbel? Inneneinrichtungen sehen doch heute völlig anders aus. Anthony Verey muss in ernsthaften Schwierigkeiten sein …« Und natürlich gab es viele, die ihn stürzen sehen wollten. Hunderte. Schlösse das Geschäft, wie würde da manch einer triumphieren …
    Bittere Gedanken. Anthony wusste, dass er auf irgendeine Weise standhalten, weiterkämpfen musste. Aber wer oder was würde ihm helfen? Wo sollte er noch einen Sinn entdecken? Ihm schien, dass da draußen, jenseits der Grenzen seines Geschäfts, in dem die Lieblinge sich um ihn drängten und ihn beschützten, heutzutage nichts als herzlose Wüste war.
    Sein Telefon klingelte.
    »Anthony«, sagte eine forsche, aber freundliche und vertraute Stimme, »ich bin’s, V.«
    Wie nach einer Adrenalininjektion schoss blitzartig ein Gefühl dankbarer Erleichterung durch Anthonys Adern. Seine Schwester Veronica war die einzige Person auf der Welt, für die Anthony Verey so etwas wie echte Zuneigung empfand.

I m selben kalten Frühling lief Audrun Lunel, eine Frau, die ihr Cevennen-Dorf La Callune in vierundsechzig Jahren nie verlassen hatte, ganz allein durch einen Wald aus Eichen und Kastanien.
    Nach den Anweisungen ihres Vaters ( »Meiner Tochter, LUNEL , Audrun Bernadette, vermache ich in seiner Gesamtheit das Waldstück, das mit Salvis 547 gekennzeichnet ist … ) « gehörte der Wald, dieses atmende, wunderschöne Etwas, ausschließlich ihr, und Audrun kam oft allein hierher, um unter ihren Gummistiefeln den Waldboden mit seinem Teppich aus Blättern, Eichel-und Kastanienschalen zu spüren, um die Bäume zu berühren, durch die Äste in den Himmel zu schauen und um sich zu vergewissern, dass dieser Ort »in seiner Gesamtheit« der Ihre war. Audruns Erinnerungen an diesen Wald schienen weit hinter alle Zeit zurückzureichen oder über alle Zeit hinaus, jedenfalls über das hinaus, was die Leute »Zeit« nannten – Zeit in ihrer Linearität, mit ihren aufgereihten Jahren, ihren Zwängen. Für Audrun hatte es diese Erinnerungen schon immer gegeben.
    Sie wusste, dass sie oftmals verwirrt war. Die Leute sagten es ihr. Freunde, Ärzte, sogar der Priester, sie alle sagten es: »Du bist manchmal verwirrt, Audrun.« Und sie hatten Recht. Es gab Augenblicke, in denen das Bewusstsein oder die Existenz oder was auch immer das Lebendigsein ausmachte, Augenblicke, in denen es … stockte. Manchmal fiel sie um – wie einst ihre Mutter Bernadette, die in Ohnmacht fiel, wenn der Wind aus Norden blies. Zu anderen Zeiten sah und hörte sie die Dinge, die da waren, durchaus, aber so, als würde sie alles aus einer seltsam beängstigenden Entfernung wie durch Glas hören und sehen, und dann, nur einen Augenblick später, wusste sie nicht mehr genau, was sie gerade gesehen oder gehört hatte. Sie
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