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Der unausweichliche Tag - Roman

Der unausweichliche Tag - Roman

Titel: Der unausweichliche Tag - Roman
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Huhn in ihre mageren Arme zu nehmen. Sie konnte sein verängstigtes Herz klopfen fühlen und sah, wie es mit seinen runzeligen Krallen, die wie junge Maiskolben aussahen, in der Luft ruderte. Nicht einmal das Zwerghuhn wollte ihr nahe sein. Sie war die Tochter einer putain de collabo und eines deutschen Soldaten der SS. Im benachbarten Pont Perdu waren neunundzwanzig Menschen von deutschen Infanteristen in einer »Vergeltungsoperation« getötet worden, und ihre Namen waren in ein Denkmal aus Stein eingraviert, einen Bildstock hinter dem Fluss, und es wurden dort Blumen hingelegt, Blumen, die nicht echt waren und nie starben.
     
    Audrun zog die alte, ausgefranste Strickjacke fester zusammen und schlenderte, das Gesicht in die wärmende Sonne gereckt, weiter durch den Wald. Noch einen Monat, und die Schwalben würden da sein. In der Stunde vorm Dunkelwerden würden sie ihre Kreise ziehen, nicht über ihrer Kate mit dem niedrigen Wellblechdach, sondern über Mas Lunel, wo Aramon immer noch wohnte. Sie würden nach Nistplätzen unter den Ziegeln und in den rissigen Steinwänden Ausschau halten, und Audrun würde am Fenster ihrer Wohnbaracke stehen oder in ihrem kleinen potager das Bohnenbeet aufhacken, dabei den Vögeln zuschauen und beobachten, wie die Sonne am Ende eines Tages abermals unterging.
    Sie würde sehen, wie das Neonlicht – diese alte grünliche Leuchtröhre – in der Küche anging, und sich ausmalen, wie ihr Bruder vor seinem elektrischen Herd hin und her stolperte und lardons zu braten versuchte, dabei große Schlucke aus seinem Rotweinglas nahm, die Asche seiner Zigarette ins Fett der Bratpfanne fallen ließ, dann direkt aus der Flasche trank, wobei sein stoppeliges Gesicht jenes einfältige Grinsen zeigte, das immer dann erschien, wenn der Wein seine Sinne berauschte. Er würde mit zitternder Hand die angebrannten lardons und ein verkohltes Spiegelei zu essen versuchen, alles in sich hineinschaufeln, während eine weitere Zigarette auf der Untertasse verglimmte und die Hunde draußen in ihrem Drahtverhau die Nacht anheulten, weil er vergessen hätte, sie zu füttern …
    Im oberen Stock lebte er im Dreck. Trug seine Kleider, bis sie stanken, hängte sie dann vors Fenster, damit der Regen sie wusch, die Sonne sie lüftete. Und er war stolz darauf. Stolz auf seine »Findigkeit«. Stolz auf die abstrusesten Dinge. Stolz, dass sein Vater Serge ihm den Namen einer Traubensorte gegeben hatte.
    Was für ein Bruder!
    Wer war deine Mutter, Audrun?
    Putain de collabo.
    Wer war dein Vater?
    Ein SS-Arschloch.
     
    Sie war zu ihrer anderen Mutter Bernadette gegangen, hatte eine Schere mitgenommen und Bernadette gebeten, den Schweineschwanz abzuschneiden. Und die Mutter nahm sie in die Arme, küsste sie auf den Kopf und sagte, ja, da werde sie sich drum kümmern. Sie würden ins Krankenhaus von Ruasse gehen, und die Ärzte würden alles »sauber und ordentlich« machen. Aber Ärzte seien teuer, und das Leben hier in La Callune sei hart, und sie würde Geduld haben müssen.
    Also fragte Audrun geduldig: »Wer war meine andere Mutter, die collabo ? Ist sie gestorben? Wurde sie verkehrt herum in einem Brunnen aufgehängt, die Füße mit Draht zusammengebunden?«
    Bernadette begann zu lachen und zu weinen, beides gleichzeitig, und setzte Audrun auf ihre Knie und schmiegte Audruns Kopf an ihre Schulter. Dann schob sie die Träger ihrer Schürze herunter, öffnete ihre Bluse und zeigte Audrun eine weiße Brust mit der bräunlichen Brustwarze. »Ich bin deine Mutter«, sagte sie. »Ich habe dich gestillt, hier an meiner Brust. Was soll dieser Unsinn mit collabos ? Die gab es nicht in La Callune, und du darfst das Wort nicht benutzen. Ich bin deine Mutter, und hier, da hast du genuckelt. Fühl mal.«
    Audrun legte ihre kleine Hand auf die Brust, die sich weich und warm anfühlte. Nur zu gern hätte sie den Worten ihrer Mutter geglaubt, die tröstlich waren wie Brot, aber Aramon hatte sie gewarnt: »Bernadette wird dich anlügen. Alle Frauen lügen. Sie stammen von Hexen ab. Sogar Nonnen haben Hexen als Mütter. Nonnen lügen über sich selbst, über ihre Keuschheit …«
    Also nahm sie ihre Hand wieder weg, kletterte von Bernadettes Schoß und lief fort.
    Doch das ärgerte Bernadette. Sie folgte ihr, nahm sie hochund sagte: »Du gehörst mir, Audrun. Mein Mädchen, mein kleiner Schatz. Das schwöre ich bei meinem Leben. Du wurdest an einem frühen Morgen geboren, und ich hielt dich in meinen Armen, und die Sonne schien
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