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Der unausweichliche Tag - Roman

Der unausweichliche Tag - Roman

Titel: Der unausweichliche Tag - Roman
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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durchs Schlafzimmerfenster und in meine Augen.«
     
    Audrun stand jetzt vor einem Esskastanienbaum, und, wie in jedem Frühling, rührte sie der Anblick der neuen Blätter. Als sie klein war, hatte ihre Familie die Schweine mit Kastanien gefüttert, und die Haut vom Schweinefleisch bildete immer eine herrlich dunkle, blasige Kruste, und sie schmeckte köstlich, ohne irgendeinen komischen Beigeschmack.
    Aber jetzt war eine Krankheit gekommen. Endothia hieß sie. Die Rinde der Kastanienbäume riss und rötete sich und fiel ab, und die Äste über den geröteten Wunden verdorrten. Überall in den Cevennen starben die Kastanienwälder. Selbst hier, in Audruns Wald, waren die Anzeichen von Endothia nicht zu übersehen. Und die Leute sagten, man könne nichts dagegen tun, es gebe keinen Zauberer, keinen Retter, so wie damals vor langer Zeit, als Louis Pasteur in den Süden nach Alès gereist war und eine Heilmethode für die schreckliche Seidenraupenkrankheit gefunden hatte. Inzwischen war Endothia ein Teil des Lebens, jener Teil, der sich unwiderruflich verändert hatte, jener Teil, der alt und krank und von der Zeit verwittert war. Bald würden die Bäume in diesem Wald sterben. Man konnte nichts dagegen tun, außer sie fällen und das Holz im Kamin verbrennen.
    Audruns Kate hatte keinen Kamin. Es gab vier »Nachtspeicher«-Heizungen, schwer wie Monolithen. Im Laufe langer Winternachmittage wurden die Heizkörper kühler, wurde die Luft kühler, und Audrun saß einfach nur so da, in ihrem Sessel, eine gehäkelte Decke über den Knien. Sie hatte die Hände im Schoß gefaltet. Und manchmal spürte sie in dieser tiefen, kühlen Stille das Nahen einer Episode . Sie näherte sich wie ein Schatten, der sich über sie legte, ein Schatten, der zu keinemGegenstand gehörte, aber die Farben aller Dinge im Zimmer annahm. In ihrem Kopf wurde es dann weiß, und die Möbel dehnten und verzogen sich hinter einer Wand aus Glas …
    Audrun untersuchte den Stamm der Kastanie. Kein Anzeichen der Krankheit an diesem hier, aber stumm formte sie mit ihren Lippen das gefürchtete Wort: Endothia , Kastanienrindenkrebs. Die Luft war so regungslos, dass Audrun ihre eigene tonlose Stimme zu hören glaubte. Dann, im nächsten Moment, bemerkte sie, dass sie nicht allein war, drehte sich um und sah ihn durch den Wald stolpern, so wie er in letzter Zeit immer lief – er, der als Junge so schnell und wendig wie ein indianischer Krieger gewesen war. Er sammelte Holz für den Kamin, packte die heruntergefallenen Äste in eine Art Schlinge auf seinem Rücken, eine Schlinge, die er aus einer alten mottenzerfressenen Decke zusammengeknüpft hatte.
    »Aramon.«
    Er hob den Arm, als wollte er sie daran hindern, näher zu kommen. »Nur ein bisschen Holz«, sagte er. »Nur ein bisschen Holz für den Kamin.«
    Er besaß selbst Bäume, ein dichtes Steineichenwäldchen hinter dem Hundezwinger. Aber er war zu faul, um sich mit der Säge dorthin zu begeben, oder er wusste, dass er seinem Umgang mit der Säge nicht mehr trauen konnte; die Säge würde seine Hand erwischen.
    »Nur ein oder zwei Äste, Audrun.«
    Sein Haar war schmuddelig und zerzaust, sein unrasiertes Gesicht bleich, fast grau in der hellen Sonne. »Und ich wollte dich fragen –«
    »Was fragen?«, sagte sie.
    »Ich habe da ein heilloses Durcheinander, oben im Mas. Ich finde gar nichts mehr. Meine carte d ’identité , meine Brille …«
    Sie betrat das Haus kaum noch – jenes Haus, das ihre geliebte Bernadette einst so sauber und ordentlich gehalten hatte. Jetzt stank es derart, dass sie würgen musste. Selbst der Anblickseiner alten Hemden, die vor dem Fenster hingen, um vom Regen gewaschen zu werden … sie musste sich abwenden, wenn sie das sah. Und sie dachte an Bernadettes Wäschekommode und an all die Laken, Hemden und Unterhemden, weiß wie Zuckerguss und ordentlich Kante auf Kante gefaltet und duftend wie frisch geröstetes Brot.
    »Aramon«, sagte sie. »Geh nach Hause. Nimm nur das Anmachholz. Was du gesammelt hast, kannst du behalten, auch wenn du weißt, dass es nicht dir gehört.«
    Er lockerte seine provisorische Schlinge, und die Holzstücke fielen ihm vor die Füße, und er starrte sie hilflos an. »Du musst mir helfen«, sagte er. »Es ist kompliziert da oben. Weißt du das?«
    »Was meinst du mit ›kompliziert‹?«
    »Alles ist total durcheinander geraten. Ich weiß nicht mehr, was was ist. Irgendjemand muss das auseinandersortieren. Bitte …«
    Ihr Blick war hart wie Stein.
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