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Die Liebe der anderen

Die Liebe der anderen

Titel: Die Liebe der anderen
Autoren: Frederique Deghelt
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I
    Lange dachte ich, es wäre ein Traum. Jeden Moment würde ich mit trockener Kehle und pelziger Zunge aufwachen und hätte einen Riesendurst, um den Brand eines denkwürdigen Rausches mit Wasser zu löschen!
    Aber nein. Ich muss mich auf meine Kindheit besinnen. Muss einen klaren Kopf behalten, am Beginn meines Lebens anknüpfen. Ich bin bei meiner Großmutter aufgewachsen. Sie glaubte an alles und jeden. Zunächst einmal an Gott. Dann an den Teufel, an Heilige, göttliche Boten, Zeichen des Himmels, an die Lästereien der Nachbarin und an das Geschwätz des Käsehändlers. Ich fürchte, ein Leben in einem solchen Dorf und bei einer derart vom Glauben durchdrungenen Großmutter ist nicht gerade hilfreich, wenn man gewisse Zusammenhänge durchschauen will.
    Lassen wir also die Kindheit bei Großmutter – meine Mutter war stets auf Reisen, mein Vater vollkommen von der Bildfläche verschwunden – beiseite … Nach dem Abitur habe ich Geschichte studiert, promoviert, und dann, plötzlich, bekam ich Muffensausen bei der Aussicht, Lehrerin zu werden und mich in den Augen meiner Schüler altern zu sehen. Mein Verhältnis zur Zeit … schon damals! Gerade noch die Schulbank gedrückt, und plötzlich vorn hinterm Pult stehen, vor lauter Angst, meinen Platz im Leben nicht zu finden! Ich stürzte mich fast panisch in ein »normales« Angestelltendasein – die tägliche Huldigung der Kaffeemaschine, die Obsessionen der Vorgesetzten, die Speichelleckerei der Mitarbeiter und die lächerliche Sitzung zu Wochenbeginn. Die meiste Zeit verbrachte ich in PR-Abteilungen. Die waren groß im Kommen. Nachdem icheine Reihe von Unternehmen kennengelernt hatte, die ebenso fortschrittlich wie nichtssagend waren, sehnte ich mich nach einer Arbeit, die mich ausfüllte und begeisterte. Ich war fünfundzwanzig.
    Dann ging alles viel schneller als erwartet. Ein Bekannter vermittelte mir eine sehr attraktive Stelle in einer Produktionsfirma, die sich auf Lokalsender spezialisiert hatte. Und um diesen Neuanfang gebührend zu feiern, luden mich ein paar Freunde in ein marokkanisches Restaurant ein. Im Laufe des Abends entwickelte sich eine magische Atmosphäre, wie sie nur an ganz besonderen Tagen entsteht. Andere fröhliche Gäste schlossen sich unserer ausgelassenen Runde an, wir tanzten, eine Art orientalischen Rock – und ich begegnete Pablo. Seltsamerweise hatte ich ihn nicht gleich bemerkt, obwohl er fast neben mir am Nachbartisch saß. Als er aufstand, um zu tanzen, war er nicht mehr zu übersehen. Er reichte mir die Hand, und ich ergriff sie, entzückt über die Aufforderung dieses bildschönen, anmutigen Mannes. Kein Vergleich zu den meisten Europäern, die nichts mit ihrem Körper anzufangen wissen, sobald Musik ertönt.
    Ich erfuhr, dass er das Kind einer russischen Mutter und eines argentinischen Vaters war. Von ihr musste er die hellen Augen und die hohen Wangenknochen haben, von ihm das schwarze Haar, die samtige Haut und den unverkennbaren südamerikanischen Einschlag. Die Summe beider Kulturen hatte einen außerordentlichen Charme. In seinem Blick und in seinem Lächeln glaubte ich die Verheißung eines geheimnisvollen Jenseits zu erkennen. Ich war offensichtlich nicht die einzige, die ihn mit Blicken verschlang; zu meinem Glück war ich jedoch die einzige, die an diesem Abend gefeiert wurde.
    Normalerweise trinke ich wenig, was an Abenden, an denen ich mehr trinke, zu unabsehbaren Folgen führen kann. Sehr schnell fand ich mich in den Armen und in den Küssen Pablos wieder, der wie ein Argentinier tanzte und wie einRusse soff, später dann in seiner Wohnung und schließlich auch in seinem Bett.
    Ich erinnere mich an die Harmonie unserer Körper und an das Gefühl, jemanden kennenzulernen, der mir längst vertraut war. Ich erinnere mich, wie ich seinen Gedanken folgte, als wären es meine eigenen. Ich sehe unsere tiefen Blicke, unsere Finger, die sich in ein und derselben Geste ineinander verschränkten. Wir hatten dieselben Assoziationen und brachen über Kleinigkeiten in Gelächter aus. Eine Nacht voller Verlangen und Gier.

    Beim Aufwachen blicke ich in Pablos strahlende grüne Augen, sie beobachten mich. Ich entdecke eine kleine graue Strähne an seiner Schläfe, die mir gestern Abend nicht aufgefallen ist. Ein Zeichen von Reife. Im Morgenlicht wirkt er etwas älter. Sein Zimmer gefällt mir. Es ist wie eine Reise: ein asiatischer Wandteppich, weiße Vorhänge, ein balinesisches Bett.
    »Die Kinder sitzen beim Frühstück,
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