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Der Umfang der Hoelle

Der Umfang der Hoelle

Titel: Der Umfang der Hoelle
Autoren: Heinrich Steinfest
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Unverständliche war imstande, das Entzücken manchen Publikums ins Rauschhafte zu steigern. Wobei allerdings Reisigers kritische Haltung keineswegs auf die Moderne oder Avantgarde beschränkt war.
    Besonders mißbilligend reagierte er auf das Entzücken angesichts Alter Meister, da in diesem Fall auch noch eine unsinnige Verbeugung vor dem Alter dazukam. Dabei gaben die meisten dieser Bilder schon aus konservatorischen Gründen wenig her. Nicht selten handelte es sich einfach um große, schwarze Leinwände, Hell-Dunkel-Malereien, von denen bloß der viele Schatten übriggeblieben war. Das meiste Licht auf diesen Bildern stammte von jenen ungewollten Spiegelungen der Scheinwerfer. Aber auch helleren, besser erhaltenen Gemälden konnte Reisiger nicht viel abgewinnen. An Rubens etwa störte ihn dieser völlige Mangel an Selbstbeherrschung. Rubens Malerei erinnerte Reisiger an ein Kind, das sich gerade ein bestimmtes Wort angeeignet hatte und nun einfach nicht mehr aufhörte, dieses eine Wort immer und immer wieder herauszuplärren, und dabei völlig vergaß, daß es auch noch andere Wörter zu erlernen gab.
    Nun, Reisiger hatte über Rubens promoviert, über einige sehr spezielle Aspekte, und zwar auf Anraten seines Doktorvaters, versteht sich. Eine schwere Geburt, wenn man bedachte, wie tief Reisigers Aversion gegen Rubens, gegen die Barockmalerei, ja, die Malerei an sich, überhaupt die Kunstgeschichte gewesen war. Dennoch hatte seine Arbeit großes Lob geerntet, so als hätte ein jeder Leser gespürt, wieviel gerade von jener Selbstbeherrschung in ihr steckte, welche Rubens’ Bildern fehlte.
    Von der Kunstgeschichte war Reisiger schnurstracks in die Privatwirtschaft übergewechselt, hatte zwei Jahre für einen Lebensmittelkonzern gearbeitet, war dann aber in jenes mittelgroße Unternehmen eingetreten, dessen Plattenspieler und Radiogeräte und CD-Player und Lautsprechersysteme es sich eigentlich verbaten, genau so, nämlich als Radiogeräte und Plattenspieler et cetera bezeichnet zu werden. Zu vollkommen waren sie gestaltet, zu sehr beruhte ihre Fähigkeit, ein bestimmtes Geräusch, einen bestimmten Klang an ein ganz bestimmtes williges Ohr heranzuführen, auf dem Prinzip der totalen Vereinnahmung und der totalen Hingabe. Es ging also nicht bloß um die originalgetreue Wiedergabe, was ohnehin kein Mensch ernsthaft zu beurteilen verstand, sondern um die radikale Konzentration, um das vollständige Eingespanntsein eines Zuhörers in den Klang und in das Geräusch wie in ein Ei. Man könnte sagen: Es ging um die Vernichtung des ganzen Menschen zugunsten seines Gehörs.
    Und weil es also viel zu banal gewesen wäre, derartige Geräte mit ihren ursprünglichen Gattungsbegriffen zu versehen, hatte es von Anfang an zu Reisigers Aufgaben gehört, die herkömmlichen Bezeichnungen durch neue zu ersetzen, zumindest Ergänzungen, Artikelnamen, Adjektive und Erlebniswörter zu kreieren, die nie und nimmer den Verdacht zuließen, es bloß mit besserer und teurerer Unterhaltungselektronik zu tun zu haben. Allein der Begriff der Unterhaltung war natürlich unangebracht. Welcher Audiophile wollte sich schon unterhalten. Lieber wollten diese Leute tot sein, als Spaß haben.
    Das konnte man verstehen oder nicht. Für Reisiger jedenfalls waren Menschen, die sich zu horrenden Preisen derart hochgezüchtete Geräte anschafften und sie in einer akustisch wie auch kultisch optimierten Weise in ansonsten leeren Räumen aufstellten, arme Irre. Er sagte ja auch nicht, er mache Werbung für Hi-Fi-Geräte. Sondern er sagte, er mache Werbung für arme Irre.
    Ebenfalls als eine Irre, wenn auch keine arme, empfand Reisiger seine Frau, die er als Neunzehnjähriger kennengelernt und bereits als Zwanzigjähriger geheiratet hatte. Wobei er das Irresein auf das extrem aktive Wesen dieser Frau bezog, die als Filmkritikerin für mehrere Zeitschriften arbeitete, Biographien verfaßte, die Festivals abklapperte, die meiste Zeit ihres Lebens vor Leinwänden und in der Umgebung tobsüchtiger und hysterischer Menschen verbrachte und dann auch noch ihre spärliche Freizeit mit der aufwendigen und umständlichen Durchquerung großer Seen und beträchtlicher Meeresabschnitte verbrachte. Denn trotz ihrer ebenfalls zweiundfünfzig Jahre war sie noch immer eine ausgezeichnete und begeisterte Langstreckenschwimmerin.
    Reisiger empfand dies alles als grotesk. Hätte er seiner Frau begegnen wollen, hätte er ein Kino aufsuchen oder ins Wasser gehen müssen. Freilich
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