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Der Umfang der Hoelle

Der Umfang der Hoelle

Titel: Der Umfang der Hoelle
Autoren: Heinrich Steinfest
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kam ihm nichts davon in den Sinn, auch nicht, seiner Frau begegnen zu wollen. Nicht, daß er sie haßte. Aber ihre quirlige Art zu Land machte ihn nervös. Und ihr langer Atem zu Wasser blieb ihm fremd wie ein Bild von Rubens. Dazu kam, daß nach so vielen Jahren der Ehe alles gesagt war, alles Schöne und alles Häßliche, und sich ein stilles Nebeneinander weder anbot noch erwünscht war. Die Familie hatte sich erübrigt. Nicht zuletzt, da die Kinder, eine Tochter und ein Sohn, bereits erwachsen waren und irgendwo auf der Welt ihren Berufen nachgingen. Vielleicht auch Karriere machten. Reisiger war sich da nicht so sicher. Die kurzen Mitteilungen auf den Postkarten, die ihn zu Anlässen wie Weihnachten oder seinem Geburtstag erreichten, blieben undurchsichtig wie jene, die ihm dieselben Kinder zehn Jahre zuvor aus Sommerlagern geschickt hatten. Immer behaupteten sie – damals wie heute –, es würde ihnen gut gehen. Aber vielleicht tat es das ja wirklich.
    Leo Reisiger abzüglich seiner beiden Leidenschaften verfügte über ein Haus am Stadtrand, fuhr einen kleinen, namenlosen Wagen, abonnierte Zeitungen, die er nicht las, und besaß zwei Pistolen, die er aus Sicherheitsgründen im Haus versteckt hatte, sich aber seit einiger Zeit nicht mehr erinnern konnte, wo denn eigentlich. Weshalb er aber noch lange nicht an seinem Verstand zweifelte. Er hielt Vergeßlichkeit in jeder Hinsicht für eine Tugend. Und natürlich für eine göttliche Erfindung. Er aß gerne gebratene Niere, aber in Maßen, bevorzugte eine japanisch angehauchte Einrichtung und schluckte seit Jahr und Tag ein Antidepressivum, das ihm ein gütiger und generöser Hausarzt anstandslos verschrieb. Reisiger war kein ausgesprochen schöner Mann, in der Art der vollhaarig Graumelierten, aber er besaß ein festes, kantiges Gesicht, das den Reiz eines Steins besaß, der einen lebendigen Eindruck macht. Totes, das lebt – so etwas wirkt natürlich interessant. Wie auch der Schatten, der stets auf seinen Augen zu liegen schien und die an und für sich belanglose Gestalt dieser Augen in ein Dunkel stellte, das gerne als Ausdruck von Intelligenz empfunden wurde. Wogegen Reisiger nichts einzuwenden hatte, obgleich er es andererseits vermied, die Sprache auf seinen Doktortitel zu bringen. Er wäre dann vielleicht in die Verlegenheit geraten, über Rubens reden zu müssen. Freundlich zu reden, um die Leute nicht zu verwirren. Folglich bevorzugte er es, sich als halber Mathematiker denn als ganzer Kunsthistoriker auszuweisen. Übrigens meinte seine Frau, die nicht anders als in Filmen denken konnte, Leo sei physiognomisch gesehen ganz eindeutig ein Connery-Typ. Und da hatte sie absolut recht.
    Leo Reisiger stand in der Mitte des Zimmers. Er trug einen rötelfarbenen Wollanzug und ein schwarzes Hemd, während aus dem Schatten, der in gewohnter Weise seine Augen verdunkelte, die von einem hellen Metallgestell umrandeten Brillengläser halb herausstanden. Er hatte seine Brille nicht immer aufgesetzt, so wie er nicht immer rauchte. Jetzt aber war beides der Fall. Die Zigarette hielt er in der rechten, ein wenig weggestreckten Hand, wobei der gerade aufsteigende Rauch das Aussehen einer Klinge besaß. Die linke Hand war zu einer lockeren Faust gerundet und beinhaltete eine Schachtel Zündhölzer. Ein Aschenbecher war nirgends zu sehen.
    Es war kalt in dem hohen, weiten Raum. Die gläsernen Flügeltüren standen weit geöffnet. Die Morgenröte, die sich draußen ereignete und den Balkon samt dem schmiedeeisernen Blätterwerk von der Seite her erreichte, trug so gut wie nichts dazu bei, den dunklen Raum und damit auch die dunkle Zimmermitte, in der Reisiger sich befand, aufzuhellen. Die alten, schweren Möbel, der offene, leere Kamin, das breite, ungemachte Bett, die Tapeten, die Vasen, der moosgrüne Teppichboden, der wie glattes Wasser auseinanderlief, das kleine Fresko weit oben, eingefaßt in die ovale Stuckumrandung des Plafonds, das alles verschwand in der Dunkelheit wie in einem tiefen Brunnen.
    Die einzige Ausnahme war das Fernsehgerät in einer Ecke des Raums. Reisiger hatte am Vorabend vergessen, es auszuschalten. Soeben war in einer sehr viel wärmeren Gegend ein bedeutender Krieg losgebrochen, dessen erste Bilder übertragen wurden. Weil aber Reisigers Blick nach draußen fiel, hinüber auf die schneebedeckten Berge, hinüber auf den tiefstehenden Morgenmond, fand dieser Krieg praktisch hinter seinem Rücken statt. Er konnte nicht sehen, wie die Raketen
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