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Der Umfang der Hoelle

Der Umfang der Hoelle

Titel: Der Umfang der Hoelle
Autoren: Heinrich Steinfest
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einfach aus dem Nichts geboren wurde, sondern auf eine zerebrale Reaktion zurückzuführen ist. Eine höchst ungewöhnliche freilich, wie man zugeben muß. In einer Weise dramatisch und symbolhaft, daß die oben angesprochenen Fanatiker ihre wahre Freude daran hätten.
    Doch das scheinbare Wunder relativiert sich rasch, wenn man die wahre Identität der beiden Betroffenen kennt, die da wie in einer ewigen Umklammerung im Eis aufgefunden worden waren.
    Nachdem ich mehrmals die knienden Leichname umkreist hatte, hielt mich Kolding an, drückte mir einen beschrifteten Zettel in die Hand und erklärte mir, daß man die Mitteilung in dem verlassenen Gehäuse des Rettungsbootes aufgefunden habe.
    Kolding ließ mich alleine. Ich öffnete das einmal gefaltete Papier und las den Text. Er stammte von Reisiger. Darin teilte er mit, daß es sich bei Dr. Jakobsen um den weltweit gesuchten Siem Bobeck handeln würde. Ein Schicksal, schrieb Reisiger, das gleiche nämlich, welches Eisberge und Ölplattformen kollidieren lasse, habe ihn und Bobeck wieder zueinandergeführt, worauf er, Reisiger, gerne hätte verzichten können. Aber es sei nun mal nicht von Bedeutung, worauf ein einzelner, ob Mensch oder Bohrinsel, verzichten könne. Der Plan erfülle sich. Und zumindest im Falle der Menschen stelle sich allein die Frage, mit welcher Demut man den Eintritt des Unvermeidbaren annehme.
    Er, Reisiger, hoffe sehr, daß ihm schlußendlich diese Demut gelingen würde, wenn er sich nun ins Freie begebe, um sich einem unvermeidbaren Tod hinzugeben. Und zwar gerne hinzugeben. Genug gelebt. Zuvor fühle er sich jedoch noch verpflichtet, auf die Umtriebe Siem Bobecks hinzuweisen, welcher sämtliche Besatzungsmitglieder der Bohrinsel mit jener Droge namens Regina gefüttert habe, um eine »Kultivierung der Aggression« hervorzurufen. Sehr wahrscheinlich gedenke Bobeck in Großversuchen von noch ganz anderem Ausmaß sein »Wundermittel« zu überprüfen.
    Scheinbar sei es ihm gelungen, eine kleine Ration des Präparats wie wohl auch Aufzeichnungen bezüglich der Herstellung im Hohlraum eines Buches unterzubringen, bei dem es sich peinlicherweise um eins seiner eigenen Werke handle. Eines Buches, das übrigens jene Frau, die als Köchin auf Barbara’s Island beschäftigt gewesen war und bei der es sich um Bobecks ebenfalls flüchtige Halbschwester handle, an sich genommen habe. Bobeck und seine Schwester seien aufgebrochen, in der wilden Hoffnung, eine nächste Ortschaft zu erreichen. Zuzutrauen sei den beiden alles. Auch ein Überleben in eisiger Kälte, da nach Bobecks Aussage das Regina in größeren Mengen eingenommen zu einer bedeutenden Kälteunempfindlichkeit führe. Bedeutende Nebenwirkungen eingeschlossen.
    Soweit also Leo Reisiger, welcher dann scheinbar unter Aufbringung eines letzten, unbedingten Willens nach draußen gekrochen war. So rätselhaft es auch klingen mag, war doch für einen jeden Betrachter offenkundig, daß diese Plastikente Reisigers letztes Ziel gewesen sein muß, zu evident der Umstand, in der ewigen Weite ausgerechnet dieses kleine Objekt, dieses in seinem ausgebleichten Zustand kaum wahrnehmbare Relikt der Zivilisation angesteuert zu haben. Obwohl Reisiger von der Position dieses Entchen eigentlich nichts hatte wissen können. Sei’s drum. Leo Reisiger scheint, wenn mein Eindruck mich nicht täuscht, mit jener Demut gestorben zu sein, die er sich so sehr gewünscht hat.
    Lieber Herr Marcuse, ich bin weit weniger als Sie mit der Geschichte vertraut, die zur Entwicklung der angesprochenen Droge geführt hat. Und besitze so gut wie keine Information über ihre genaue Wirkungsweise. Es sind vor allem Gerüchte, die das Bild dieser Substanz geprägt haben. Und an Gerüchten mag ich mich nicht orientieren. Dennoch hat mich die Betrachtung der beiden Leichen, die des Siem Bobeck und seiner Schwester Gerda Semper, zu der Annahme veranlaßt, daß die beiden Personen besagtes Regina in der von Reisiger angesprochenen hohen Dosis zu sich genommen haben. Was wohl nicht nur zu einem Ausbruch von Gewalt und gegenseitiger Mordlust geführt hat, sondern in Folge einer extremen Körperreaktion auch zu den ringförmigen Brandverletzungen, die dann also etwas von ihrem Mysterium einbüßen würden. Gott sei Dank.
    Als ich Reisigers Nachricht fertiggelesen hatte und zu den beiden Toten zurückgekehrt war, stellte ich fest, daß es jetzt Kolding und seine Leute waren, die sich etwas abseits begeben hatten. Es schien, als wollten sie
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