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Der Umfang der Hoelle

Der Umfang der Hoelle

Titel: Der Umfang der Hoelle
Autoren: Heinrich Steinfest
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einer Fotografie, die ich bei mir trug. Es war Leo Reisiger. Ganz offensichtlich war er erfroren. Eine Verletzung war nicht zu erkennen. Er trug einen Schutzanzug, der ihm augenscheinlich nichts genutzt hatte.
    Was nun überraschte und erstaunte, war der Umstand, daß neben dem Gesicht des Toten eine Plastikente im Eis lag, eine richtiggehende Badeente, bloß weiß statt gelb. Ich fragte, was der Unsinn solle, wer so geschmacklos gewesen sei, dieses Spielzeug neben der Leiche zu plazieren.
    »Geschmacklos?« fragte mein Begleiter und fragte, wofür ich die Grönländer eigentlich halten würde. Für Leichenschänder?
    Wie sich nun erwies, war der Leichnam zusammen mit dieser Gummiente entdeckt worden. Auch erfuhr ich von jenen zigtausend Plastiktieren, die soeben auf die amerikanische Ostküste zutrieben und zuvor auf der Höhe Islands gesichtet worden waren. Dieses eine Tier hatte sich scheinbar von den anderen abgesondert, um genau an jener Stelle zu landen, an der dann auch Leo Reisiger zusammengebrochen und erfroren war.
    Wie um meine Uninformiertheit bezüglich dieser Heerscharen schwimmender Enten auszugleichen, verschwieg ich, daß Leo Reisiger querschnittsgelähmt gewesen war und es somit einer bedeutenden Anstrengung bedurft haben mußte, sich an die fünfzig Meter vom Rettungsboot zu entfernen. Wozu eigentlich? Um einer Plastikente Gesellschaft zu leisten? Gerne hätte ich dieses Badewannenutensil sofort untersucht. Aber ich war natürlich nicht hier, um etwas anzufassen, sondern um mir einen Überblick zu verschaffen. Und um selbigen zu erweitern, fragte ich, ob man auch die anderen beiden Vermißten entdeckt habe.
    Mein Begleiter gab mir ein Zeichen, ihm zu folgen. Wir bewegten uns zurück zum Rettungsboot, wo ich auf dem Sozius eines Motorschlitten Platz zu nehmen hatte und mich Herr … ich erinnere mich jetzt wieder seines Namens, Herr Kolding, in entgegengesetzter Richtung nordwärts chauffierte. Was trotz des Panoramas alles andere als ein Vergnügen war. Solche Landschaften gehören ins Fernsehen. Es ist kalt, es ist windig, und auf einem Motorschlitten sitzt es sich wie auf einer Kuh, die bockt.
    Nach einigen Kilometern trafen wir auf eine weitere Ansammlung von Polizeibeamten und einheimischen Helfern, die sich um einen Punkt herum aufgestellt hatten, ohne aber etwas zu berühren oder auch nur zu fotografieren. Mir war, als werde ich Zeuge einer Andacht. Und so etwas wie Andacht verdiente das Bild, das sich bot, auch tatsächlich.
    Zwei Personen, beide kniend, hatten sich, einer den anderen, an der Kehle gefaßt. Man spürte noch immer die Kraft, die mit dem jeweiligen Druck einherging. Eine Kraft im doppelten Sinn, die Kraft nämlich, die im Würgen bestand als auch im Aushalten dieses Würgens.
    Lieber Herr Marcuse, glauben Sie mir bitte, daß der Anblick dieser beiden Menschen – ein Mann und eine Frau, die Frau nicht minder mächtig, ja um einiges voluminöser – keinen Zweifel darüber ließ, daß sie nicht etwa im Zuge ihres gegenseitigen Gewürges erstickt waren, oder auch nur einer, sondern daß die zwei im Zuge ihres endlosen Gerangels erfroren waren, ohne im Moment des Todes von sich zu lassen. Dazu kam nun, daß zwar ihre in Anstrengung erstarrten Gesichter Merkmale des Kältetodes aufwiesen, ihre Köpfe auf Höhe der Stirn aber verschont geblieben waren. Verschont unter Anführungszeichen, da nämlich eine ringförmige, fingerbreite Brandwunde in der Art eines Kranzes die Schädel markierte. Wenn Sie so wollen, gleich einer herabgesunkenen, festsitzenden Gloriole. Auch war ich von Anfang an überzeugt – und die nachträglichen Untersuchungen haben dies bestätigt –, daß hier nicht etwa ein äußerer Eingriff vorlag, eine abartige Kennzeichnung von fremder Hand, sondern diese Feuermale von innen heraus entstanden waren, etwa in der Art eines Kabelbrandes.
    Ich darf mich als gläubigen, aber nicht abergläubischen Menschen bezeichnen. Ich halte Stigmata für eine kuriose Erfindung von Fanatikern, die eine Welt ohne Wunder nicht ertragen. Und ich bin überzeugt, daß auch in diesem Fall sich eine Erklärung finden läßt, die abseits des Übernatürlichen steht. Die Untersuchungen, die ich bereits erwähnte und über die ich nur sehr oberflächlich unterrichtet worden bin, sprechen von einem intrakraniellen, also innerhalb des Schädels gelegenen Brandherd, der in Form einer sehr flachen Spirale die äußerste Zone erreicht habe. Das beweist immerhin einen Vorgang, der nicht
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