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Der Umfang der Hoelle

Der Umfang der Hoelle

Titel: Der Umfang der Hoelle
Autoren: Heinrich Steinfest
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schmeckte spitz. Keine zwei Meter von dem Rettungsboot drehte er sich auf den Rücken und sah hinauf in den von schneeigen Wirbeln gemusterten Himmel. Die Dachbodenwärme des Anzugs wich rasch einer Kälte, die etwas von einem dieser Schlägertypen besaß, die einen zwar nicht anfassen, aber ihre verzerrten Gesichter ganze nahe heranführen und irgendwas in der Art von »Fick dich in die Gürtelschnalle!« zum besten geben. Man kann die Unebenheiten ihrer Nasenspitzen erkennen und ihr Atem weht als Speisekarte des Lebens herüber. Ganz abgesehen davon, daß man in einer solchen Situation jeden Moment einen Kopfstoß erwartet. Oder etwas ähnlich Direktes.
    Noch aber blickte die Kälte Reisiger einfach nur in die Augen hinein. Nasenspitze an Nasenspitze.
    Reisiger hob den Kopf und betrachtete das Rettungsboot. Nach seinem Geschmack befand er sich viel zu nahe an der »Tomate«. Er sah sich jetzt selbst wie auf einem Gemälde und meinte, daß die Kapselform mit ihrer starken Farbe von seiner Person ablenkte. Er wollte sich gewissermaßen aus diesem Bild herausstellen, um sich in eines zu fügen, dessen zentraler Anziehungspunkt er selbst sein würde. Das war vielleicht ein wenig kleinkariert oder eitel, aber angesichts der Umstände hielt er diesen Wunsch für angebracht. Weshalb er nun begann, über den eisigen Boden zu kriechen. Dabei entwickelte er nach und nach eine Technik des Robbens, die es ihm erlaubte, rascher vorwärts zu kommen. Ja, eine kleine verrückte Euphorie erfaßte ihn. Wie schön, sich solcherart mit den Verhältnissen anzufreunden. Seehundartig.
    Was natürlich nichts daran änderte, daß es mit seinen körperlichen Kräften zu Ende ging. Nachdem er etwa eine Distanz von dreißig, vierzig Metern zurückgelegt hatte, erschlaffte sein Körper, so wie zuvor das Boot erschlafft war. Das erzbischöfliche Kreuz blinkte nun auch über ihm. Er gab auf, rollte auf den Rücken, sah himmelwärts. Was mit Abstand die bessere Lage darstellte, wenn man bedachte, daß Reisiger die Ansicht vertrat, im Erdinneren existiere ein Fegefeuer. Es war ja nicht nötig, sich diesem Fegefeuer opfergleich anbieten zu wollen, indem man seinen Blick auf den Boden gerichtet hielt.
    Es war also geschafft. Er befand sich nun weitab der tomatenroten Kapsel. Befand sich im anderen Bild. Dann aber, nach einem kurzen Moment der Erleichterung, spürte er die Anwesenheit von etwas zweitem, das wie er selbst die Ebenheit der Fläche konterkarierte. Er vermutete ein Tier in seiner Nähe oder auch nur ein Loch im Eis.
    Reisiger drehte den Kopf zur Seite. In ein paar Metern Entfernung erkannte er eine geringe Erhöhung, handhoch. Das Objekt war weiß, aber die Weiße, die es besaß, war eine andere als die hier übliche. Es war so, als hätte man in einem Glas Milch eine Kugel Zitroneneis entdeckt. Und es besteht doch wohl ein deutlicher Unterschied zwischen dem Weiß von Milch und dem von Zitroneneis. Wie zwischen dem Weiß einer Kerze und dem Sahnebezug einer Geburtstagstorte.
    Mein Gott, was konnte das sein?
    Reisiger war verärgert. Verärgert wie über eine Bildstörung. Und genau das war es ja auch. Eine Störung, der Reisiger glaubte auf den Grund gehen zu müssen. Erneut drehte er sich auf den Bauch und schleppte sich mit einer Kraft, die nun tatsächlich die letzte war, zu dem Objekt hin. Solcherart damit beschäftigt, einen Rest von Energie aus sich herauszupressen, hob er den Blick erst an, als er den Gegenstand erreicht hatte.
    »Ich glaub’s nicht«, sprach er unhörbar, setzte sich auf und zog die Flasche Gin von jenem Regal, das sein eigener Brustkorb bildete.
    Er nahm einen Schluck, einen kräftigen, gleich darauf einen zweiten. Auch die Alkoholkunst war nun an ihr Ende gelangt. Jetzt wurde getrunken, ob das nun eine Kunst war oder nicht.
    Es war ein freundlicher, ja liebevoller Blick, den Reisiger dem Objekt zuwarf, das ein wenig schräg im Eis steckte: eine Plastikente.
    Ganz offensichtlich handelte es sich um einen Ausreißer aus jener großen Herde. Einen Ausreißer, der wohl bis zur isländischen Küste im Pulk geblieben war, sich aber nach Durchquerung der Danmarkstraße von der Gruppe abgesondert hatte, um zum zweiten Mal – nachdem er ja bereits in der Bering-Straße festgesessen war – vom Eis eingefangen zu werden.
    Reisiger fühlte sich gerührt und verzaubert. Es lag soviel Würde und soviel … ja, soviel Poesie in diesem Anblick. Er vergaß seinen Wunsch, später als Leiche von nichts gestört zu sein.
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