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Der Umfang der Hoelle

Der Umfang der Hoelle

Titel: Der Umfang der Hoelle
Autoren: Heinrich Steinfest
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Spieler, kein Platz ist, in der zumindest seine Zahlen keinen Platz haben, zumindest nicht als feststehende Gruppe in ein und derselben Ziehung. Das weiß der Spieler und spielt trotzdem. In anderen Zusammenhängen würde man so etwas als Todesverachtung, Blasphemie, Hybris oder als ein wahnhaftes Leugnen realer Verhältnisse klassifizieren. Doch soviel Glück hat auch der glückloseste Lottospieler, daß ihn seine Leidenschaft selten in die Klapsmühle führt. Vielmehr hat das massenhafte Auftreten dieses Typus wenigstens in den betroffenen Milieus zur Anschauung geführt, ein Mensch, der nicht spiele, sei nicht ganz normal. Wie wahr.
    Leo Reisiger war fraglos ein echter Lottospieler. Was bedeutete, daß er sich für zwölf unwiderrufliche Zahlenreihen entschieden hatte, es jedoch ablehnte, einen Systemwettschein zur Anwendung zu bringen, in eine Tipgemeinschaft einzutreten oder auch nur Wetten für die übernächste Ziehung abzuschließen. Statt dessen machte er sich die Mühe und Freude, die Darlegung seiner gleichbleibenden Voraussagen von Mal zu Mal handschriftlich vorzunehmen, die Kreuze wie jemand zu setzen, der eine Landkarte mit Nadeln markiert und solcherart eine Eroberung gedanklich durchspielt. Denn auch Reisiger versuchte, eine unwillige Zukunft in Besitz zu nehmen. Und obgleich nur ein einziger seiner verschiedenen Tips der absolut richtige sein konnte, so besaßen die anderen elf die Bedeutung eines militärischen Apparats, dessen Geheimnis darin bestand, seine genaue Gestalt, nämlich elf von zwölf zu sein, erst mit dem Eintritt der »richtigen« Zukunft preiszugeben.
    Es waren also zweiundsiebzig Kreuze, die Reisiger zweimal die Woche mittels eines sehr speziellen Kugelschreibers aufzeichnete. Eines Kugelschreibers, dessen Gehäuse über ein derart blasses Lichtblau verfügte, wie es sonst nur bestimmte Mineralwasserflaschen sowie ausgesprochen dunstige Sommertage besaßen. Bei flüchtigem Hinsehen konnte man meinen, es handle sich nicht um einen blauen, sondern um einen weißen Kugelschreiber, was auch immer wieder behauptet wurde: »Interessantes Ding, Ihr weißer Kugelschreiber.«
    Leute, die das taten, die also nicht nur ungenau waren, sondern diese Ungenauigkeit auch noch zum besten gaben, waren für Leo Reisiger erledigt. Wobei er jedoch Übertreibungen vermied. Das heißt, er erregte sich nicht in dem Sinn, daß er etwa seinen Schwager öffentlich zur Schnecke machte, nur weil dieser von einem weißen Kugelschreiber gesprochen hatte. Aber hätte Reisiger die Möglichkeit gehabt, einer Reihe von Menschen ein langes, zufriedenes Leben zu ermöglichen, hätte sein Schwager mit Sicherheit nicht dazugezählt. Wäre Reisiger andererseits gezwungen gewesen, ein paar Krankheiten zu verteilen …
    Übrigens stellte dieser Kugelschreiber eine Spezialanfertigung dar, war durch zwei Griffstellen auf Reisigers rechten Daumen und Zeigefinger »zugeschnitten« worden, besaß die Gestalt eines stark stilisierten Heuschreckenrumpfs, verfügte über Silberteile an den Enden und in der Mitte (welche natürlich den Eindruck von »Weiß« nur noch verstärkten) und war nicht durch den üblichen Druck auf Bolzen oder Oberteil zu aktivieren, sondern kraft eines gewissen Schwungs, mit dem man das Schreibgerät aus der Tasche zog. Was ziemlich genau an ein offenes Jagdgewehr erinnerte, das durch einen aufwärts geführten, raschen Ruck geschlossen und in einen schußbereiten Zustand versetzt wird. Freilich hätte Reisiger einen solchen Vergleich strikt abgelehnt und den Urheber des Vergleichs in die Kategorie »Empfänger von Krankheiten« aufgenommen.
    Reisiger war seit jeher ein großer Freund exquisiter Schreibgeräte, ohne aber dafür dieselbe Leidenschaft wie für den Mond und das Lottospiel entwickelt zu haben. Nichtsdestoweniger hielt er eisern daran fest, stets einen Kugelschreiber bei sich zu tragen. Zusätzlich zu einer Füllfeder und einigen Bleistiften. Und zwar keineswegs aus einer konservativen Haltung heraus. Reisiger war alles andere als ein Feind von Computern, schätzte auch im Privaten deren gewisse Zuverlässigkeit, Präzision und Rasanz, in etwa wie man die guten Eigenschaften einer bestimmten Hunderasse hochhält und dabei gewisse negative Zuchtmerkmale billigend hinnimmt. Einen Nutzen, der ohne Schaden war, ohne Risiko, ohne Tücken und Unbill, hätte Leo Reisiger als Teufelswerk abgelehnt. Denn Reisiger, der ausgesprochen religiös war und in einer wenn auch modifizierten und
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