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Der Umfang der Hoelle

Der Umfang der Hoelle

Titel: Der Umfang der Hoelle
Autoren: Heinrich Steinfest
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nicht sogar überpersönlichen Katastrophe führen würde. Nicht, daß Reisiger auch nur einen Schimmer davon besaß, von welcher Katastrophe die Rede hätte sein müssen. Es war die pure Intuition, die ihn diesbezüglich trieb. Und zwar von Jugend an. Wobei er wohl nicht der einzige war. Möglicherweise rüsteten sich Hunderttausende von Menschen Tag für Tag mit Kugelschreibern oder Wäscheklammern oder Teebeuteln oder einer ganz bestimmten Art von Schraubenschlüsseln aus, in Erwartung einer Konstellation, deren fatale Auswirkung sich etwa nur durch eine Wäscheklammer verhindern lassen würde. Es mochte Leute geben, welche die Vision in sich trugen, eines Tages mittels einer solchen Wäscheklammer die gesamte Menschheit zu retten. Und wer kann schon sagen, wie oft die Welt bereits von ihrem Untergang bewahrt worden war, weil solche Spinner existierten.
    Reisiger war nun sicher kein Spinner, bloß jemand, der es als geringe Mühe ansah, darauf zu achten, ständig einen Kugelschreiber mit sich zu führen. Für alle Fälle. Aber eben auch für Notizen und vor allem natürlich wegen des Ausfüllens seiner Lottoscheine. Hätte Reisigers rätselhafte Vorahnung jedoch darin bestanden, irgendeine Art von Unglück nur dadurch verhindern zu können, tagaus, tagein mit einem karierten, bis zur Brustmitte hin offenen Hemd durch die Gegend zu rennen, so hätte er gewiß den Eintritt dieser Katastrophe demütig hingenommen. Was ein wenig über seinen Hang zu gesitteter Kleidung aussagt. Er war das, was man wohl einen »gut« gekleideten Mann nennt. Nicht mehr und nicht weniger. Seine Anzüge und Hemden und Krawatten paßten, aber auch nicht so sehr, daß es jemand verblüfft hätte. Es gibt solche Leute, die dadurch verblüffen, daß sie eine Krawatte oder einen Turnschuh oder eine simple Kappe in einer Weise tragen, als wäre jenes Kleidungsstück gleich einer Blüte oder einem Geweih aus ihnen herausgewachsen. Zu denen gehörte Reisiger nicht. Übrigens sehr zu seinem Bedauern. Er wäre gerne perfekt gewesen. Aber perfekt war eben nur sein Kugelschreiber.
    Wenn man von Leo Reisiger seine zwei Leidenschaften, den Mond und das Lottospiel, abzog, dann blieb folgendes übrig: ein zweiundfünfzigjähriger Mann, der bereits begonnen hatte – behauptete er – ein wenig zu schrumpfen, jedoch noch immer bei einer Höhe von Einmetervierundachtzig seinen Abschluß fand. Er wog ständig zwischen achtzig und fünfundneunzig Kilo, wirkte aber leichter, manchmal sogar schlank, was er natürlich nicht war. Aber er verstand es – durch eine gewisse Art flotten Gehens und eine gewisse Art flüssig hingestreckten Sitzens –, einen schlanken Eindruck zu vermitteln. Auch vermied er eine Kleidung, die seinen Körper strumpfartig umgeben hätte. Er rauchte sowohl Pfeife als auch Zigaretten, gleichwohl zwang er sich zu stundenlangen Rauchpausen, in denen er von Leuten, die ihn nicht gut kannten, für einen militanten Nichtraucher gehalten wurde. Anders gesagt: Er schätzte es nicht, wenn man während seiner Rauchpausen rauchte.
    Leo Reisiger hatte ein Studium der Mathematik halb absolviert und eines der Kunstgeschichte zu Ende geführt, wobei ihm dennoch die ganze Kunstgeschichte so fremd geblieben war wie jene luxuriösen, objekthaften und totemartigen Hi-Fi-Geräte, deren Mystifizierung einen Teil seiner Arbeit bildete. Es erschien ihm wie eine bittere Notwendigkeit, sich ausgerechnet in jenen Disziplinen durchgesetzt zu haben, die ihm nur wenig bedeuteten. Natürlich war er in der Lage, einen Braque von einem Picasso zu unterscheiden, das Original von der Fälschung, wenn man so will.
    Aber die Kunstwerke an sich, deren behaupteter Reiz, deren angebliche Magie blieben ihm verborgen. Beziehungsweise leugnete er eine solche Magie, hielt sie maximal für etwas, was allein im Kopf des Betrachters stattfand, vergleichbar einer Person, die sich verliebt und aus diesem Gefühl heraus eine Welt sieht, die gar nicht existiert.
    Veilchen, wo keine sind. Scherben, die Glück bringen, obgleich einem die Hand blutet. Es war dieses Entzücken, welches Reisiger so sehr ablehnte, das Entzücken der Leute, die in eine Ausstellung gingen und die in Wirklichkeit von sich selbst entzückt waren, von der eigenen Position als Rezipient. Die somit ein Bild, ein Kunstwerk stets als einen Spiegel wahrnahmen und sich in einem jeden Farbflecken wiedererkannten. Aber auch in der Schwierigkeit mancher Kunst. Oder sogar in ihrer Unverständlichkeit. Gerade das
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