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Der Umfang der Hoelle

Der Umfang der Hoelle

Titel: Der Umfang der Hoelle
Autoren: Heinrich Steinfest
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Fotografien verfügte. Aber dennoch blieb der freie Blick auf den Mond das Um und Auf, der Kern der Sache, auch der Kern der Liebe. Zudem half er, der freie Blick, die Relationen nicht aus dem Auge zu verlieren. Nicht zu vergessen, wer man war und wo man stand, nämlich in Zimmern und auf Balkonen. Während etwa die Benutzung eines Teleskops die Illusion hervorrief, sich mit einem Teil seiner Persönlichkeit von der Erde wegzubewegen. Diese Illusion verwarf Reisiger. Wenn schon, dann wollte er mit beiden Füßen auf dem Mond zu stehen kommen und nicht bloß mit den Plateausohlen seines Bewußtseins. Der Einsatz von Beobachtungsgeräten diente für ihn der Bildung, nicht der Stimmung. Die Stimmung aber ergab sich allein im Moment des freien, durch keine Technik verstellten, von keiner Technik getragenen Blicks.

Wie viele Augen braucht der Mensch?
    Reisiger betrachtete die Flocken von Asche, die den Boden bedeckten. Er umging sie und warf die Zigarette in den Kamin, der mit seiner mächtigen, barocken Gestalt, mit seinen Löwenfratzen und Gazellenköpfen und seinen marmornen Wülsten mehr wie die Pforte zu einem repräsentativen Gebäude aussah. Man hätte einen Baum in diesem Monstrum verbrennen müssen, um es gemütlich zu haben.
    Nun, Reisiger war nicht hier wegen der Gemütlichkeit, sondern aus beruflichen Gründen. Wobei es eigentlich seiner Art widersprach, in Grandhotels wie diesem abzusteigen. Räume, die eine Höhe von drei Metern weit überstiegen, empfand Reisiger gewissermaßen als nach oben hin offen. Und er pflegte nun mal nicht im Freien zu übernachten.
    Im vorliegenden Fall aber hatte er sich fügen müssen, da es der ausdrückliche Wunsch seines Geschäftspartners gewesen war, Reisiger in diesem Hotel einzuquartieren, so daß er also die Nacht, wenn schon nicht neben einem riesigen Feuer, so doch in einem riesigen Bett verbracht hatte, in dem es allerdings trotz hochgeschraubter Zentralheizung nie so richtig warm geworden war. Als dürfe es in solchen Betten gar nicht warm werden, als seien warme Betten ein Privileg der unteren Klassen. Das war wohl ein Unterschied wie zwischen Sarg und Gruft.
    Im Moment aber wußte Reisiger die Kälte zu schätzen, die durch die offenen Flügeltüren eindrang. Es war ein bitterkalter Tag. Der See vor dem Hotel gefroren. Der ganze Ort gefroren. Die Promenade, der Himmel, der Mond, die Berge. In Reisigers Kopf aber breitete sich die notwendige Klarheit aus, um zu tun, was zu tun war. Er trat an den schwarzen, langen Schreibtisch, der im Dunkel gleich einer Planke zu schwimmen schien. Reisiger griff nach den beiden Papieren, die einsam auf der weiten Fläche lagen, und hielt sie in die Höhe: einen Lottoschein, ausgefüllt, samt jener nur halb so großen, maschinell ausgestellten Quittung.
    Gewissermaßen war es so, daß ein ganzes Land auf der Suche nach diesem Lottoschein war. Beziehungsweise nach seinem Besitzer. Auf das übliche Lotto-Fieber war ein unübliches Nach- und Spätfieber gefolgt, eine posttraumatische Erregung. Immerhin handelte es sich um den zweithöchsten Betrag in der Geschichte dieses Spiels und dieses Landes. Bloß, daß bereits mehr als vier Wochen vergangen waren, in denen sich der Gewinner nicht gemeldet hatte. Was diesen zweithöchsten Gewinn für Medien und Publikum weit interessanter machte, als jener höchste es gewesen war, den im Jahr zuvor eine uncharismatische Wettgemeinschaft kassiert hatte. Wettgemeinschaften waren auch für Reisiger so ziemlich das letzte, wofür sich Menschen hergeben durften. Solchen Leuten fehlte jeglicher Stolz, jegliche Einsicht in das Spiel als Herausforderung und Prüfung. Im Falle dieser Kollektive verwirklichte sich sodann das Bild jener mickerigen, winselnden, unterprivilegierten Gestalten, denen es allein ums Geld ging und die sich als Gewinner wie als Verlierer genau so verhielten, wie nichtspielende Gebildete sich das vorstellten.
    Dieser höchste Gewinn war also nicht wirklich ein Thema gewesen, da sich seine Umstände und Folgen als undramatisch erwiesen hatten. Geld, das aufgeteilt wurde, war sozusagen kein Geld mehr, sondern eben bloß noch ein Rest von Geld, vergleichbar einem Ferrari, von dem man nicht mehr als die Räder besaß oder auch nur das Lenkrad oder bloß irgendeine Düse. Nicht verwunderlich also, daß man die Mitglieder dieser Wettgemeinschaft – so hoch ihre Anteile de facto auch gewesen waren – in der Öffentlichkeit bemitleidet hatte. Und tatsächlich wurde auch keiner von ihnen
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