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Der Umfang der Hoelle

Der Umfang der Hoelle

Titel: Der Umfang der Hoelle
Autoren: Heinrich Steinfest
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so richtig glücklich. Bald war die Rede von den »traurigen Millionären«. Selbst die Lottogesellschaft hatte darauf verzichtet, diesen höchsten Gewinn merklich herauszustellen. Um so erfreulicher war es nun, daß man bei dem Gewinner jener zweithöchsten Summe ganz eindeutig eine Einzelperson annehmen durfte. Anders war ein solches Schweigen nicht zu erklären. Kollektive schwiegen nicht. Nicht so lange.
    Spekulationen machten die Runde, etwa über den Tod jener Person, deren Körper nun in irgendeiner stickigen, kleinen Wohnung seit Wochen vor sich hinfaulte. An anderer Stelle entwickelte man die Vorstellung einer vertuschten, hochkomplizierten Familientragödie, dann wieder davon, daß der Wettschein und die eigentlich maßgebliche Quittung verlorengegangen waren, am besten irgendwo im öffentlichen Raum, auf das ein ganzes Volk animiert wurde, die Augen endlich einmal offenzuhalten. Anonyme Briefe erschienen in den Zeitungen, von Leuten, die sich als Gewinner ausgaben und irgendwelche verrückten Dinge behaupteten. Eine kleine Hysterie hatte sich über das Land gelegt, nicht weiter schlimm, nichts, was diesem Land wirklich geschadet hätte. Daß aber der unbekannte Gewinner sich schlichtweg auf einer längeren Urlaubsreise befand, wollte niemand glauben. Denn soviel wußte man, daß es sich um keinen Systemwettschein handelte, so wenig wie eine mehrwöchige Laufzeit quittiert worden war. Vielmehr war die Wette allein für diese eine Spielrunde vorgenommen worden. Dies widersprach ganz eindeutig der Vorstellung eines urlaubenden Spielers.
    Nicht zuletzt hatte die Presse dank einer dieser undichten Stellen den Namen jenes Mannes in Erfahrung gebracht, welcher in seinem Tabakladen den Schein entgegengenommen hatte. Was dazu führte, daß dieser Mann geradezu belagert wurde. Er selbst schwieg beharrlich. Nicht ohne Stolz, nicht ohne Pathos. Somit im Bewußtsein der historisch gefärbten Situation, zu der er einen wesentlichen Teil beizutragen meinte. Freilich hieß es, der Mann sei berühmt für seine Vergeßlichkeit, so daß ihm gar nichts anders übrigbleibe, als sich in eine dramatische Verschwiegenheit zu hüllen und mit großer Geste vor allem jene Kundschaft zu bedienen, die den Ort mit der Tat verwechselte und seinen Laden mit Bergen von Lottoscheinen stürmte.
    Das Irrationale bestimmt die Welt. Und nicht ein paar Rädchen, die ständig geölt werden müssen.
    Reisiger trat an die offene Flügeltüre und hob mit einer Hand die beiden Scheine ins Licht, die er gegeneinander verschob, so daß sich eine Lücke bildete und genau in der Bucht des spitzen Winkels die Gestalt des Mondes sichtbar wurde. Gleichzeitig ergab es sich, daß im Licht der seitlich einfallenden Sonne die gläserne Tiefe der über die Zahlen gelegten und mit Kugelschreibertinte aufgezeichneten Schrägkreuze deutlicher hervortrat. Wie eingebrannt in ein Papier, das an diesen Stellen eine Tiefe von vielen hundert Metern zu besitzen schien. Ozeanisches Papier.
    So gesehen fand eine optische Verbindung der beiden Leidenschaften statt, denen Leo Reisiger anhing. Ein Mond, der zwischen Lottoschein und Quittung wie in einer Schaukel oder Wiege hing. Es war ein schöner, würdevoller Moment. Reisiger verbat es sich, auch nur einen Seufzer zu tun. Sodann trat er zurück ins Zimmer und begab sich zu jenem voluminösen Kamin, auf dessen Sims er die beiden Scheine ablegte. Er öffnete seine linke Faust, in der sich noch immer die Streichholzschachtel befand, und setzte eines der Hölzer in Brand. Erneut griff er nach den Scheinen, und ohne auch nur eine Sekunde innezuhalten, führte er die Flamme an die beiden Papiere heran, welche rasch und heftig Feuer fingen. Reisiger ließ sie los, ein wenig wie man die Hand der Geliebten losläßt, die über dem Abgrund baumelt. Lodernd segelten Spielschein und Quittung auf die feuerfeste Bodenplatte, wo sie zur Gänze verbrannten.
    Wenn es denn so etwas wie eine telepathische Verbindung zwischen Menschen und Dingen gab, so mußten in diesem Moment eine Unmenge von Leuten einen tiefen Schmerz verspürt haben. Eine Explosion im Magen, ein Stechen in der Brust, ein Bersten im Kopf. Einem ganzen Land mußte für einen Moment ziemlich übel geworden sein.
    Bei aller Ruhe und Beherrschtheit, zu der sich Leo Reisiger gezwungen hatte, war natürlich auch ihm der Fraß der Flammen qualvoll in die Glieder gefahren und ins Herz gedrungen. Gut möglich, daß er in diesem kurzen Augenblick ganze Millimeter geschrumpft war.
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