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Der Traum des Kelten

Der Traum des Kelten

Titel: Der Traum des Kelten
Autoren: Vargas Mario LLosa
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kleiner Hof, alles menschenleer. Roger nahm es kaum wahr. Er betete, antwortete auf die Fürbitten und war froh, dass seine Schritte fest waren und er nicht weinen musste. Von Zeit zu Zeit schloss er kurz die Augen und bat Gott um Erbarmen, doch im Geiste sah er immer nur das Gesicht von Anne Jephson vor sich.
    Schließlich traten sie auf einen sonnenüberfluteten freien Platz hinaus. Ein Trupp bewaffneter Wärter erwartete sie rings um ein viereckiges Holzgestell mit einer kleinen Treppe von acht oder zehn Stufen. Der Gefängnisverwalter las mehrere Sätze vor, sicherlich das Urteil, Roger schenkte ihm keine Beachtung. Der Verwalter fragte ihn, ob er etwas sagen wolle. Roger schüttelte den Kopf, doch leise murmelte er: »Irland.« Er drehte sich zu den Priestern um, die ihn beide umarmten. Pater Carey segnete ihn.
    Da trat Mr. Ellis heran und bat ihn, sich hinabzubeugen, damit er ihm die Augen verbinden könne. Roger senkte den Kopf, der Henker legte ihm die Binde an und tauchte ihn in Dunkelheit. Es kam ihm vor, als sei Mr. Ellis’ Griff nicht mehr so entschlossen und beherrscht wie zuvor, als er ihm die Hände gefesselt hatte. Der Henker fasste ihn am Arm und führte ihn langsam die Stufen hinauf.
    Er vernahm das Rascheln von Bewegungen, die Gebete der Priester und schließlich ein Wispern von Mr. Ellis, der ihn erneut bat, den Kopf zu senken und sich etwas vorzubeugen, please, Sir . Roger gehorchte, und spürte, wie ihm das Seil um den Hals gelegt wurde. Ein letztes Mal hörte er Mr. Ellis wispern: »Wenn Sie die Luft anhalten, geht es schneller, Sir.« Er tat, wie ihm geheißen.

Epilog
    I say that Roger Casement
    Did what he had to do.
    He died upon the gallows,
    But that is nothing new.
    W. B. Yeats
    Die Geschichte von Roger Casement wirft nach seinem Tod ihre Schatten, erlischt und glimmt wieder auf wie einer jener Feuerwerkskörper, die in die Nacht aufsteigen, in einem donnernden Sternenregen explodieren und stumm verebben, ehe sie kurz darauf mit erneutem Geschmetter den Himmel entflammen.
    Wie der anwesende Arzt, Dr. Percy Mander, festhielt, verlief die Hinrichtung »ohne jeden Zwischenfall«, der Tod trat sofort ein. Vor der Beisetzung nahm der Mediziner auf Anordnung der britischen Behörden, die wissenschaftliche Beweise für die »perversen Neigungen« des Hingerichteten wünschten, mit zu diesem Zweck übergezogenen Gummihandschuhen eine Exploration des Anus und Enddarms vor. Dabei stellte er fest, dass »mit bloßem Auge« sowohl Anus, als auch »der untere Dickdarm, soweit meine Finger vordringen konnten« eine deutliche Erweiterung aufwiesen. Der Arzt schlussfolgerte, dass dieser Befund »die Praktiken, denen der Hingerichtete offenbar zugeneigt war«, bestätige.
    Nach dieser Prozedur wurde der Leichnam Roger Casements ohne Grabstein oder auch nur ein Kreuz mit seinen Initialen verscharrt, neben der ebenfalls namenlosen letzten Ruhestätte von Dr. Crippen, einem einige Jahre zuvor hingerichteten, berühmten Mörder. Der Erdhaufen, der zu Rogers Grabmal wurde, lag neben dem Roman Way , der Römerstraße, über die zu Beginn des ersten Jahrtausends unserer Zeitrechnungdie römischen Legionen einmarschierten, um diesen entlegenen Winkel Europas zu zivilisieren, der später einmal England sein würde.
    Bald schon schien Roger Casements Geschichte dem Vergessen anheimzufallen. Die Eingaben, die Anwalt Gavan Duffy bei den britischen Behörden im Namen von Rogers Geschwistern machte, die den Leichnam nach Irland überführen und dort christlich bestatten lassen wollten, wurden nicht nur zu diesem Zeitpunkt abgelehnt, sondern noch über ein halbes Jahrhundert bei jedem erneuten Antrag der Familie. Lange Zeit nahm außer einigen wenigen Personen – darunter der Henker John Ellis, der in den Memoiren, die er kurz vor seinem Selbstmord schrieb, festhielt, dass »von allen Menschen, die ich hinrichten musste, keiner tapferer starb als Roger Casement« – niemand seinen Namen in den Mund. Man vergaß ihn, in England wie in Irland.
    Es dauerte, bis er in das Pantheon der irischen Unabhängigkeitshelden aufgenommen wurde. Die infame Kampagne, die der britische Geheimdienst mit der Veröffentlichung von Auszügen seiner geheimen Tagebücher unternommen hatte, um ihn in Misskredit zu bringen, war erfolgreich. Bis heute wirkt sie nach: Die dunkle Aura von Homosexualität und Pädophilie umgab Roger Casement das ganze 20. Jahrhundert hindurch. Seine Person erregt Missfallen in einem Land wie Irland, das bis vor
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