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Der Traum des Kelten

Der Traum des Kelten

Titel: Der Traum des Kelten
Autoren: Vargas Mario LLosa
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Tagebücher dann nicht vernichtet, ehe Sie zum Verschwörer gegen das Empire wurden?«
    ›Was fällt diesem Grünschnabel ein, mich mit ›Menschenskind‹ anzureden‹, dachte Roger. Er war mindestens doppelt so alt wie dieser Fatzke.
    »Auszüge dieser Tagebücher sind momentan überall im Umlauf«, sagte der jetzt, den Blick abgewandt. »In der Admiralität hat der Sprecher des Ministers, Hauptmann Reginald Hall, höchstpersönlich an Dutzende Journalisten Kopien verteilt. Sie kursieren in ganz London, im Parlament, im House of Lords, in den liberalen wie konservativen Clubs, in den Zeitungsredaktionen, in den Kirchen. Die ganze Stadt spricht von nichts anderem.«
    Roger blieb stumm. Wieder hatte er das seltsame Gefühl, das ihn in den letzten Monaten häufig übermannt hatte, seit er an jenem regnerischen, grauen Morgen im April 1916 halb erfroren in der Ruine von McKenna’s Fort im Süden Irlandsverhaftet worden war, das Gefühl, dass nicht er es war, der dies durchlebte, dass all das einem anderen zustieß.
    »Ich weiß, Ihr Privatleben geht weder mich noch Herrn Gavan Duffy noch sonst jemanden etwas an«, redete der Assistent mit beleidigender Sachlichkeit weiter. »Es handelt sich hier um eine rein berufliche Angelegenheit. Herr Gavan Duffy wollte Sie über die Situation informieren lassen. Und Sie vorwarnen. Das Ganze könnte sich nachteilig auf das Gnadengesuch auswirken. Heute Morgen sind in einigen Zeitungen bereits Spekulationen, Gerüchte und böse Kommentare über Ihre Tagebücher zu lesen. Die Ihrem Gnadengesuch gegenüber prinzipiell positiv eingestellte öffentliche Meinung könnte sich gegen Sie wenden. Das ist natürlich eine bloße Vermutung. Herr Gavan Duffy wird Sie auf dem Laufenden halten. Soll ich ihm etwas ausrichten?«
    Roger schüttelte schwach den Kopf und machte auf dem Absatz kehrt. Der Sheriff bedeutete dem anderen Wärter, den schweren Riegel aufzuschieben und die Tür zu öffnen. Der Rückweg in die Zelle kam Roger endlos vor. Während er den langen Korridor mit den geschwärzten Backsteinmauern entlangging, fürchtete er, jeden Moment zu stolpern, der Länge nach auf den feuchten Stein zu schlagen und einfach liegen zu bleiben. An seiner Zellentür angekommen, erinnerte er sich, was der Sheriff ihm an dem Tag gesagt hatte, als man ihn ins Pentonville-Gefängnis eingeliefert hatte: Ausnahmslos alle Häftlinge aus dieser Zelle waren auf dem Schafott geendet.
    »Kann ich heute duschen?«, fragte er, bevor er hineinging.
    Der Sheriff schüttelte den Kopf und sah ihn mit demselben Abscheu an, den Roger im Blick des Assistenten gelesen hatte.
    »Duschen können Sie am Tag Ihrer Hinrichtung«, sagte er genüsslich. »Aber auch nur, wenn es Ihr letzter Wille ist. Andere ziehen dem Duschen ein gutes Mahl vor. Dumm für Mr. Ellis, dann scheißen sie nämlich, wenn sie den Strick um den Hals spüren. Einen schönen Dreck hinterlassen die. Mr. Ellis ist der Henker, falls Sie das nicht wissen.«
    Als die Tür hinter ihm zufiel, warf Roger sich bäuchlingsauf die Pritsche. Er schloss die Augen. Wie wohltuend wäre es gewesen, das kalte Wasser aus dem dicken Rohr auf die Haut prasseln zu spüren, bis sie blau vor Kälte wäre. Im Pentonville-Gefängnis durften sich alle Häftlinge, mit Ausnahme der zum Tode Verurteilten, einmal die Woche mit Seife in diesem eiskalten Wasserstrahl waschen. Und die Lebensbedingungen in den Zellen waren generell erträglich. Dagegen dachte er mit Schaudern an das verdreckte Gefängnis von Brixton zurück, an die Matratze voller Läuse und Flöhe, die ihm Rücken, Beine und Arme zerbissen hatten. Doch sosehr er versuchte, an etwas anderes zu denken, kamen ihm immer wieder das angeekelte Gesicht und die widerwärtige Stimme des herausgeputzten blonden Assistenten in den Sinn, den Gavan Duffy ihm geschickt hatte, anstatt ihm persönlich die schlechten Nachrichten zu überbringen.

II
    An seine Geburt am 1. September 1864 in Doyle’s Cottage, Lawson Terrace, in dem Dubliner Vorort Sandycove, konnte er sich natürlich nicht erinnern. Er hatte zwar in der irischen Hauptstadt das Licht der Welt erblickt, doch lange Zeit war für ihn selbstverständlich gewesen, was sein Vater, Hauptmann Roger Casement, der acht Jahre mit Auszeichnung im 3. leichten Dragoner-Regiment in Indien gedient hatte, ihm stets eingeschärft hatte: Seine wahre Heimat war die Grafschaft Antrim im Herzen von Ulster, das protestantische und englandtreue Irland, wo die Familie der Casements seit dem
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