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Der Traum des Kelten

Der Traum des Kelten

Titel: Der Traum des Kelten
Autoren: Vargas Mario LLosa
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ins Archiv gewandert war? Den Anzug, den Mr. Stacey hatte bügeln lassen und in dem er in ein paar Stunden sterben würde, hatte sein Anwalt Gavan Duffy gekauft, damit er vor Gericht respektabel aussähe. Um ihn nun nicht zu zerknittern, breitete er ihn unter der dünnen Matratze seiner Pritsche aus. Er selbst legte sich darauf, in Erwartung einer schlaflosen Nacht.
    Erstaunlicherweise dämmerte er nach wenigen Minuten ein, wohl für mehrere Stunden, denn als er die Augen leicht erschrocken wieder aufschlug, war es zwar noch dunkel in der Zelle, doch hinter dem Fenstergitter ließ sich die Morgendämmerung erahnen. Er hatte von seiner Mutter geträumt. Sie hatte betrübt ausgesehen, und er, als Kind, hatte sie mit den Worten getröstet: »Sei nicht traurig, bald sehen wir uns wieder.« Er verspürte keine Furcht, nur wünschte er, dass es schon vorüber wäre.
    Nicht viel später – vielleicht kam es ihm aber nur so vor – ging die Tür auf, und von der Schwelle aus sagte der Sheriff mit müdem Gesicht und roten Augen, als hätte er keine Sekunde geschlafen:
    »Wenn Sie duschen möchten, dann müssen Sie das jetzt tun.«
    Roger nickte. Als sie den langen, verrußten Korridor entlangschritten, fragte Mr. Stacey ihn, ob er ein wenig habe ruhen können. Roger antwortete, er habe einige Stunden geschlafen, und der Sheriff murmelte : »Das freut mich für Sie.« Und während Roger sich vorstellte, wie wohltuend der kalte Wasserstrahl auf seinen Körper prasseln würde, teilte ihm Mr. Stacey mit, mehrere Personen hätten die ganze Nacht vor dem Gefängnistor mit Plakaten gegen die Todesstrafe protestiert, gebetet und Kruzifixe hochgehalten. Auch einige Priester und Pastoren seien darunter gewesen. Roger fühlte sich sonderbar,als ginge ihn das alles nichts mehr an, als wäre ein anderer an seine Stelle getreten. Er blieb lange unter dem kalten Wasser stehen, seifte sich sorgfältig ein, schrubbte sich mit beiden Händen ab. Als er zurück in die Zelle kam, erwarteten ihn bereits Pater Carey und Pater MacCarroll. Sie erzählten ihm, inzwischen hätten sich noch viel mehr Menschen vor den Toren des Pentonville-Gefängnisses versammelt, die beteten und Plakate schwenkten. Viele kämen aus dem vornehmlich irischen Viertel Holy Trinity und seien dem Aufruf des Gemeindepfarrers Edward Murnaue gefolgt. Allerdings gebe es auch eine Gruppe, die Hochrufe auf die Hinrichtung des »Verräters« ausbringe. Roger ließen diese Neuigkeiten gleichgültig. Die Geistlichen warteten draußen, während er sich anzog. Verblüfft stellte er fest, wie sehr er abgenommen hatte. Hemd, Anzug und auch die Schuhe waren ihm zu groß.
    Von den beiden Geistlichen flankiert und gefolgt vom Sheriff und einem bewaffneten Wärter, begab er sich in die Gefängniskapelle, die er zuvor noch nicht betreten hatte. Sie war klein und düster, trotzdem strahlte der ovale Saal einen gewissen Frieden aus. Pater Carey zelebrierte den Gottesdienst, Pater MacCarroll assistierte als Messdiener. Roger verfolgte bewegt die Zeremonie, wusste allerdings nicht, ob es an den Umständen lag oder an der Tatsache, dass er zum ersten und letzten Mal die heilige Kommunion empfangen würde. ›Es wird meine erste Kommunion und meine Wegzehrung sein‹, dachte er. Nach der Kommunion wollte er Pater Carey und Pater MacCarroll etwas sagen, fand jedoch keine passenden Worte, so dass er schweigend für sich betete.
    In der Zelle stand das Frühstück neben seinem Bett, doch auch jetzt war ihm nicht nach essen zumute. Er fragte, wie spät es sei, und diesmal sagte man es ihm: acht Uhr vierzig. ›Mir bleiben noch zwanzig Minuten‹, dachte er. Unmittelbar darauf kam der Gefängnisverwalter mit dem Sheriff und drei Männern in Zivil herein, einer von ihnen zweifellos der Arzt, der als Beamter der Krone hinterher seinen Tod feststellen sollte, sowie der Henker und sein junger Assistent. Der robusteMr. Ellis war wie die anderen schwarz gekleidet, hatte aber die Ärmel hochgekrempelt, um bequemer arbeiten zu können. In der Hand hielt er ein zusammengerolltes Seil. Mit rauer Stimme bat er Roger höflich, die Hände auf dem Rücken zu verschränken, da er ihn fesseln müsse. Während er dies tat, stellte Mr. Ellis ihm eine Frage, die Roger ganz und gar absurd vorkam: »Tue ich Ihnen weh?« Roger schüttelte den Kopf.
    Pater Carey und Pater MacCarroll murmelten Bittgebete. Zwischen ihnen legte er den langen Weg durch ihm unbekannte Teile des Gefängnisses zurück: Treppen, Korridore, ein
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