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Der Traum des Kelten

Der Traum des Kelten

Titel: Der Traum des Kelten
Autoren: Vargas Mario LLosa
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wenigen Jahren von einer rigiden Moral beherrscht war und wo allein der Verdacht einer »sexuellen Perversion« dem Betreffenden Schimpf und Schande einbrachte. Roger Casements Name wurde allein in politischen Essays, Zeitungsartikeln und wissenschaftlichen Abhandlungen erwähnt.
    Doch auch in Irland wandelten sich die Sitten und die Sexualmoral, so dass ihm nach und nach, wenn auch noch immer mit gewissen Vorbehalten, die Anerkennung zuteilwurde, die er verdiente; als einer der großen Gegner des Kolonialismus seiner Zeit sowie ein Verteidiger der Menschenrechte und Eingeborenenkulturen und ein aufopfernder Verfechterder Unabhängigkeit Irlands. Langsam sahen seine Landsleute ein, dass ein Held und Märtyrer kein abstrakter Prototyp und kein Muster an Perfektion ist, sondern ein Mensch voller Widersprüche, mit seinen Tugenden und Schwächen, weil ein Mensch, wie José Enrique Rodó schrieb, »viele Menschen ist«, was heißen will, dass Engel und Dämonen sich in seinem Wesen unentwirrbar durchdringen.
    Die Kontroverse um die sogenannten Black Diaries verstummte nie und wird es wohl nie tun. Gab es sie wirklich, schrieb Roger Casement sie von eigener Hand, mit all ihren vulgären Obszönitäten, oder wurden sie vom britischen Geheimdienst gefälscht, um den einstigen Diplomaten der Krone auch moralisch und politisch hinzurichten, zur exemplarischen Abschreckung möglicher künftiger Verräter? Jahrzehntelang weigerte sich die englische Regierung, unabhängigen Historikern und Graphologen Einsicht in die Tagebücher zu gewähren, mit der Begründung, sie fielen unter das Staatsgeheimnis, was den Verdacht erhärtete, es handele sich um eine Fälschung. Als die Geheimhaltung vor wenigen Jahren aufgehoben wurde und die Forscher die Tagebücher studieren und wissenschaftlichen Analysen unterziehen konnten, ging die Debatte weiter. Vermutlich wird sie das noch lange, und das ist nicht schlecht. Soll Roger Casement uns ruhig weiterhin rätselhaft bleiben und damit vor Augen führen, dass man einen Menschen eben nie ganz zu ergründen vermag, dass er in all seiner Komplexität nicht rational zu erklären ist. Es ist mein persönlicher Eindruck – der des Schriftstellers natürlich  –, dass Roger Casement diese berüchtigten Tagebücher zwar schrieb, aber das Geschriebene nicht gelebt hatte, zumindest nicht alles, dass vieles darin Übertreibung und Fantasie ist, er viele Dinge notierte, weil er sie gern getan hätte, es jedoch nicht konnte.
    Im Jahr 1965 gewährte die englische Regierung unter Harold Wilson schließlich eine Rückführung der sterblichen Überreste Casements. Ein Militärflugzeug brachte sie am 23. Februar desselben Jahres nach Irland, wo eine öffentlicheGedenkfeier abgehalten wurde. Vier Tage lang stand der Sarg wie der eines nationalen Helden in der Garrison Church of the Saved Heart. Eine auf mehrere hunderttausend Menschen geschätzte Menge zog an ihm vorbei, um ihm ihren Respekt zu erweisen. Unter militärischem Geleit wurde er an einem regnerischen grauen Vormittag zur Pro-Cathedral gebracht, wo ihm vor dem historischen Gebäude des Hauptpostamtes, Hauptquartier des Aufstands von 1916, militärische Ehren zuteilwurden, ehe der Sarg zum Friedhof von Glasnevin gebracht und in der Erde versenkt wurde. Éamon de Valera, Irlands erster Präsident, verdienter Veteran des Aufstands von 1916 und ein Freund Roger Casements, erhob sich von seinem Sterbebett, um eine der ergreifenden Reden zu halten, mit denen man bedeutende Männer zu verabschieden pflegt.
    Weder im Kongo noch im Amazonasgebiet hat Roger Casement eine Spur hinterlassen, so viel er auch dafür getan hat, die schweren Verbrechen zu Zeiten des Kautschukbooms publik zu machen. Dafür stößt man wenigstens in Irland vereinzelt auf Orte, an denen seiner gedacht wird. In Antrim beispielsweise, auf der Anhöhe des Glen von Glenshesk, der hinabführt bis in die kleine Bucht von Murlough, unweit des Familienhauses der Casements, Magherintemple, hatte Sinn Féin ihm ein Denkmal errichtet, das die radikalen nordirischen Unionisten zerstörten. Die Trümmer liegen noch dort. In Ballyheigue, in der Grafschaft Kerry, steht auf einem kleinen Platz am Meer eine von dem irischen Bildhauer Oisin Kelly angefertigte Statue Roger Casements. Im Kerry County Museum von Tralee befindet sich der Fotoapparat, den Roger 1911 auf seiner Reise ins Amazonasgebiet benutzt hatte, und auf Anfrage kann der Besucher auch den groben Mantel in Augenschein nehmen, den er in
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