Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Totenleser

Der Totenleser

Titel: Der Totenleser
Autoren: Antonio Garrido
Vom Netzwerk:
Reptilien, durch Alkoholvergiftung, durch Überhitzung, durch innere Verletzungen infolge von Völlerei oder durch sexuelle Ausschweifungen. Außerdem wurden die einzelnen Schritte bei der Obduktion von Leichen erörtert sowie die Methoden zur Vertreibung des Gestanks und zur Wiederherstellung des Lebens in den Fällen, in denen der Tod nur scheinbar eingetreten war.
    Am Ende erlaubte mir ein wahres Arsenal an Techniken, Verfahren, Instrumenten, Präparaten, Protokollen und Gesetzen sowie die zahlreichen von Song Ci selbst gelösten und in die Abhandlung aufgenommenen forensischen Fälle, eine nicht nur fesselnde,sondern auch sehr realitätsnahe Geschichte zu schreiben.
    Nach der überraschenden Entdeckung meines Themas recherchierte ich weitere zwölf Monate, in denen ich Informationen aus den Bereichen Politik, Bürokratie, Kultur, Gesellschaft,Justiz,Ökonomie,Religion,Militär und Sexualität im mittelalterlichen China der Song-Dynastie zusammentrug. Bei der Auswertung des Materials stieß ich auf so interessante Dinge wie die angespannte Lage, in der sich der Hof des Kaisers Nin Zong angesichts des ständigen Drucks der Jurchen befand, jener barbarischen Völker im Norden, die nach der Eroberung des nördlichen China die Invasion fortzusetzen drohten, oder die komplizierten und strikten Verhaltensnormen innerhalb der Familie, wo die jüngeren Mitglieder den älteren nicht nur Respekt, sondern absoluten Gehorsam schuldeten. Ich las von der Bedeutung der Riten als Mittelpunkt und Antrieb des Lebens, von der Allgegenwart körperlicher Züchtigung und überhaupt von extremer Gewalt als Korrektiv für jede noch so geringe Verfehlung. Ich entdeckte das umfangreiche Strafgesetzbuch, in dem alle Aspekte des Lebens beschrieben waren, etwa das Fehlen monotheistischer Religionen und die Koexistenz von buddhistischer, taoistischer und konfuzianischer Philosophie. Auch die moderne und gerechte Regelung, wonach jedem Anwärter durch vierteljährliche Prüfungen der Aufstieg in die Machtelite ermöglicht wurde, war dort festgehalten. Ich erfuhr, dass die chinesische Gesellschaft zu dieser Zeit von einem stark verbreiteten Antimilitarismus geprägt war, hingegen erstaunlicheLeistungen auf dem Gebiet von Wissenschaft und Technik hervorgebracht hat, die unter der Song-Dynastie eine neue Blüte erreichten: so wurden der Kompass und das Schießpulver erfunden,der Buchdruck mit beweglichen Lettern, das Papiergeld, Schiffe mit wasserdichten Schotten …
    Nachdem ich die Grundzüge der Geschichte entworfen hatte, bestand meine erste Schwierigkeit darin, die Romanfiguren zu taufen.
    Wenn wir ein Buch lesen, dessen Personen in einem fremden Land leben, können wir uns ihre Vor- und Zunamen einprägen und sie den Charakteren zuordnen, weil diese Namen im Allgemeinen hebräische, griechische oder lateinische Wurzeln haben, die uns trotz ihrer archaischen Anmutung in gewisser Weise vertraut sind. Deshalb werden heute wenig gebräuchliche Namen wie Jenofonte, Asdrúbal, Suetonio oder Abderramán schnell wiedererkannt, und es fällt uns leicht, sie zu unterscheiden. Das Gleiche gilt für die germanischen Namen, leider jedoch nicht für die orientalischen und noch weniger für die chinesischen.
    Die chinesische Sprache – in Wahrheit eine Vielzahl von Sprachen – ist ungeheuer kompliziert. Die meisten ihrer Wörter sind Einsilber, mit der Besonderheit, dass die gleiche Silbe mit bis zu fünf verschiedenen Betonungen ausgesprochen werden kann. Stellen wir uns also einen Roman vor, dessen Protagonisten die folgenden Namen tragen: Song, Tang, Ming, Peng, Feng, Fang, Kang, Dong, Kung, Fong und Kong. Spätestens auf der dritten Seite würde jeder Leser das Buch aus der Hand legen.
    Um dieses Problem zu umgehen, sah ich mich, obwohl ich die Namen der wichtigsten historischen Personen beibehielt, gezwungen, jene zu verändern, die wegen ihrer Ähnlichkeit mit bereits verwendeten Verwirrung stiften konnten.Aus demselben Grund habe ich bei Nebenfiguren die Rufnamen durch sprechende Namen ersetzt, die typische Eigenschaften der von ihnen repräsentierten Personen zum Ausdruck bringen.
    Doch die Schwierigkeiten gingen weiter. Das Pinyin ist ein nützliches phonetisches Transskriptionssystem, das es erlaubt, die komplizierten chinesischen Ideogramme in alphabetische Wörter umzuwandeln, die von jedem Europäer gelesen, gesprochen und geschrieben werden können. Allerdings hat die variierende Tonhöhe der chinesischen Aussprache dazu geführt, dass
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher