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Der Totenleser

Der Totenleser

Titel: Der Totenleser
Autoren: Antonio Garrido
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bis sein Vater einen Posten als Buchhalter in der Präfektur von Lin’an bekam. Er unterstand Richter Feng, einem der weisesten Justizbeamten der Hauptstadt.
    Von da an wurde alles besser. Die Einkünfte der Familie stiegen, und anstatt im Schlachthaus zu arbeiten, konnte Ci sich vollkommen auf die Schule konzentrieren. Nach vier Jahren Oberschule bekam Ci, dank seiner außergewöhnlichen Begabung, eine Assistenzstelle im Referat von Richter Feng. Am Anfang wurden ihm einfache Büroarbeiten aufgetragen, aber die Hingabe und Sorgfalt, mit der Ci seine Aufgaben erledigte, blieben dem Richter nicht verborgen. Schon bald beschloss er, den siebzehnjährigen Jungen unter seine Fittiche zu nehmen.
    Und Ci enttäuschte ihn nicht. Nach einigen Monaten befreiteFeng ihn von Routineaufgaben, damit er dem Richter bei Befragungen von Verdächtigen half und beim Säubern und Präparieren der Leichen, deren Todesursache es festzustellen galt. Durch seine Geschicklichkeit erwies sich Ci binnen kürzester Zeit als unverzichtbare Stütze für den Richter, der nicht zögerte, ihm immer mehr Verantwortung zu übertragen. Schließlich zog er Ci auch für die Untersuchung von Verbrechen und Rechtstreitigkeiten zu Rate, was Ci erlaubte, die Grundsätze der Rechtssprechung kennenzulernen und sich zugleich ein Basiswissen in Anatomie anzueignen.
    Während seines zweiten Universitätsjahres nahm Ci, ermutigt von Feng, an einem Präparationskurs der medizinischen Fakultät teil. Dem Richter zufolge waren die Beweise, die ein Verbrechen aufklären konnten, häufig in den Wunden verborgen, und um sie zu finden, musste man die Wunden kennen und genau untersuchen – nicht wie ein Richter, sondern wie ein Chirurg.
    So ging es, bis Cis Großvater plötzlich erkrankte und eines Nachts starb. Nach der Beerdigung musste der Vater den Posten als Buchhalter und die Wohnung in Lin’an aufgeben, um die traditionelle Trauerzeit zu begehen. Ohne Arbeit und ohne Dach über dem Kopf kehrte die Familie – zu Cis großem Unglück – ins Dorf zurück.
    Sein Bruder Lu hatte sich verändert. Er hatte Land gekauft, lebte inzwischen in einem neuen, großen Haus und beschäftigte mehrere Tagelöhner. Als sein Vater, gezwungen durch die Umstände, an seine Tür klopfte, nötigte Lu ihn zu einer Entschuldigung, bevor er seinen alten Herrn eintreten ließ und ihm ein kleines Zimmer anbot, anstatt ihm das eigene zu überlassen. Ci behandelte er zunächst mit der gewohnten Gleichgültigkeit, doch als er bemerkte, dass der jüngere Brudernicht mehr spurte wie ein treues Hündchen, und dass sein ganzes Interesse den Büchern galt, begann er, all seinen Zorn auf Cis Rücken zu entladen. Nur auf dem Feld zeige sich der wahre Wert eines Mannes. Dort würden weder seine Texte noch seine Studien helfen, Reis oder Bauern herbeizuzaubern. Für Lu war sein kleiner Bruder nur ein zwanzigjähriger Nichtsnutz, den er ernähren musste – und das ließ er ihn spüren. Cis Leben verwandelte sich in eine einzige Serie von Erniedrigungen, was dazu führte, dass ihn mit seinem Dorf ein immer tieferer Hass verband.
    Ein frischer Windstoß holte Ci in die Gegenwart zurück.
    Lu war inzwischen aufgestanden, er saß neben der Mutter und schlürfte geräuschvoll seinen Tee. Als er Ci erblickte, spuckte er auf den Boden aus und setzte die Tasse mit Schwung auf dem Tisch ab. Ohne ein Wort zu sagen und ohne auf den Vater zu warten, griff er nach seinem Bündel und verließ grimmig das Haus.
    »Er sollte mal lernen, sich zu benehmen«, murmelte Ci, während er den Tee aufwischte, den sein Bruder verschüttet hatte.
    »Und du solltest lernen, ihn zu respektieren, schließlich leben wir in seinem Haus«, sagte seine Mutter, ohne den Blick vom Feuer abzuwenden. »Ein starkes Heim …«
    Ja, ein starkes Heim war eines, in dem ein mutiger Vater, eine kluge Mutter, ein gehorsamer Sohn und ein zuvorkommender Bruder lebten. Das musste ihm niemand mehr vorbeten. Es reichte, dass Lu ihn jeden Morgen daran erinnerte.
    Obwohl es eigentlich nicht seine Aufgabe war, breitete Ci die Bambusmatten aus und stellte die Schälchen auf den Tisch. Die Krankheit, die Mei Mei in der Brust saß, hatte sich verschlimmert, und es machte ihm nichts aus, seiner Schwester ihre Pflichten abzunehmen. Sorgsam achtete er darauf,dass die Anzahl der Schälchen eine gerade Ziffer ergab, den Ausguss der Teekanne richtete er zum Fenster hin aus, damit er auf keinen der Tischgenossen zeigte. In der Mitte platzierte er den Reiswein und
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