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Der Totenleser

Der Totenleser

Titel: Der Totenleser
Autoren: Antonio Garrido
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bereits einige geschäftig pickende Krähen versammelt hatten. Grimmig zoger seinen Rohrstock hervor und ging hinüber, ohne weitere Erklärungen abzuwarten. Entsetzt beobachtete Ci, wie sein Bruder gegen den Kopf trat.
    »Verdammt«, fluchte Lu lautstark. »Und du hast ihn hier gefunden?« Er packte den Kopf an den Haaren und hob ihn vom Boden auf. Angewidert streckte er ihn von sich. »Beim Barte des Konfuzius! Ist das nicht Shang? Wo ist der übrige Leichnam?«
    »Dort … Neben dem Pflug«, sagte Ci matt.
    Lu wandte sich an seine Tagelöhner. »Ihr zwei, schafft die Leiche fort von hier, na los, worauf wartet ihr noch! Und du, lad die Setzlinge ab und leg den Kopf in einen der Körbe. Verdammt seien die Götter! Wir kehren ins Dorf zurück.«
    Ci ging hinüber zu dem Büffel, um ihm das Geschirr abzunehmen.
    »Darf man erfahren, was zum Teufel du da machst?«, erkundigte sich Lu.
    »Hast du nicht gesagt, dass wir ins Dorf …«
    »Wir schon«, erklärte Lu barsch. »Du allerdings lässt dich dort erst wieder blicken, wenn du deine Arbeit getan hast. Verstanden?«
2
    Den Rest des Nachmittags verbrachte Ci damit, den Gestank einzuatmen, den das schaukelnde Hinterteil des Büffels verströmte, während er darüber nachgrübelte, welches Verbrechen der alte Shang begangen haben mochte, um so zu enden. Soweit er wusste, hatte Shang zeit seines Lebens keine Feinde gehabt und war allseits respektiert gewesen. Das Schlimmste, das er sich hatte zuschulden kommen lassen, war,dass er zu viele Mädchen gezeugt hatte, weshalb er schuften musste wie ein Sklave, um für jede eine Mitgift zusammenzutragen, die sie attraktiv machte … Unvorstellbar, dass es ein Mörder auf Shang abgesehen haben könnte.
    Als er aus seinen Grübeleien auftauchte, ging bereits die Sonne unter. Außer dem Pflügen hatte Lu ihm aufgetragen, den Berg aus schwarzem Schlamm zu verteilen, der am Feldrand aufgehäuft war. Missmutig verteilte er einige Schaufeln der Mischung aus menschlichen Exkrementen, Lehm, Asche und pflanzlichen Überresten, die sie üblicherweise als Dünger verwendeten, auf das Reisfeld. Was sich danach noch am Rand häufte, ebnete er ein, damit es aussah, als habe er seine Arbeit erledigt. Schließlich trieb er den Büffel rückwärts vom Feld, sprang auf den Rücken des schwerfälligen Tiers und kehrte ins Dorf zurück.
    Auf dem Weg sann Ci über vergleichbare Mordfälle nach, die ihm während seiner Zeit in Lin’an begegnet waren. Er hatte Richter Feng bei der Untersuchung unzähliger Gewaltverbrechen assistiert, sogar brutale Ritualmorde von Sekten waren dabei gewesen, doch niemals war ihm ein derart grausam verstümmelter Körper untergekommen. Zum Glück befand sich der Richter zurzeit im Dorf, und Ci hatte keinen Zweifel, dass es ihm gelingen würde, den Verantwortlichen ausfindig zu machen.
    Kirschblüte lebte mit ihrer Familie in einer Hütte, die sich kaum auf ihren wurmstichigen Holzpfeilern hielt. Als Ci sich dem Haus näherte, packte ihn die Angst. Er hatte sich einige Sätze zurechtgelegt, wie er das Vorgefallene berichten könnte, doch in diesem Augenblick überzeugte ihn keiner mehr recht. Es regnete in Strömen, doch er verharrte reglos vor der Tür. Zögernd hob er seinen zitternden Arm, ließ ihn jedoch gleich wieder sinken. Er biss sich verzweifelt auf dieUnterlippe – was sollte er Kirschblüte bloß sagen? Schließlich nahm er seinen Mut zusammen und klopfte an. Die einzige Antwort, die aus dem Haus zu ihm drang, war Stille. Nach dem dritten Versuch musste er einsehen, dass niemand aufmachen würde. Niedergeschlagen gab er sein Vorhaben auf und kehrte nach Hause zurück.
    Sein Vater empfing ihn mit Vorwürfen wegen der Verspätung, kaum dass er die Tür geöffnet hatte. Richter Feng war zum Abendessen gekommen, und sie warteten bereits seit einer Weile auf ihn. Beim Anblick des Gastes faltete Ci die Hände vor der Brust zusammen und verbeugte sich entschuldigend.
    »Bei allen Dämonen!« Der Richter begrüßte seinen einstigen Schützling mit ehrlichem Erstaunen. »Was geben sie dir hier bloß zu essen? Letztes Jahr warst du noch ein Kind!«
    Mit seinen zwanzig Jahren war Ci tatsächlich nicht mehr der schmächtige Junge, über den sich ganz Lin’an lustig machte. Die Feldarbeit hatte seinen Körper gestärkt, es war ein sehniger junger Mann aus ihm geworden. Ci lächelte schüchtern, dabei entblößte er eine perfekte Zahnreihe. Der alte Richter hatte sich kaum verändert. Sein ernstes, von feinen Falten
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